Gut ist nicht genug

Es dünkt mich einfach sehr plump. Birgit Schmid schreibt in der letzten NZZ am Sonntag, den Frauen gehe es so gut wie noch nie und trotzdem würden sie am Phantom des bösen Mannes festhalten, einfach weil ihrem Feminismus sonst die Berechtigung fehlte. Sie fragt, ob man ein empfundenes Unrecht mit einem noch viel höheren Unrecht relativieren dürfe – konkret, ob man die Steinigung von Frauen bei Ehebruch in sagen wir Somalia dem gefühlten Leid der urbanen, modernen, freien Frauen gegenüberstellen dürfe, die an Lesungen von Feministinnen pilgern, die Männlichkeit als Krebs bezeichnen. Ja sagt sie, man kann. Ich glaube eher nicht, sage ich. 

Ich sehe verschiedene Probleme bei dieser Argumentation. Birgit Schmid und ich sind ähnlich und wenn wir uns mit irgendeiner Frau auf dieser Welt vergleichen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es der anderen Frau wesentlich schlechter geht, tatsächlich wahnsinnig hoch. Das gilt für fast alle Menschen in meinem Umfeld, egal wohin sie schauen, es ist elender. Wir könnten also eigentlich ganz aufhören mit der Politik hierzulande, denn so gesehen ist beispielsweise auch der Kampf für die AHV übertrieben, anderswo gibt es in der Regel nämlich nicht mal ein gesetzlich definiertes Pensionsalter, von einer Rente ganz zu schweigen, und das ist ja dann wirklich schlimm – warum also sollten wir uns beklagen. Beklagen dürfen. Trotzdem kämpfen wir genau dafür und so vieles mehr in der Schweiz. Birgit Schmid zitiert hier das Tocqueville-Paradox: Je gerechter Gesellschaften sind, desto ungerechter erscheinen sie einem. Das stimmt. Die Frage ist, ist das schlecht?

Nein. Ich konnte vermutlich noch nie in meinem Leben so gut Englisch wie nun nach diesen Monaten in den USA. Und noch nie war ich mir all der Fehler, die ich mache, so sehr bewusst. Ich kann sie nämlich jetzt erst erkennen. Mein Englisch ist besser geworden, das Wissen um meine Fehler aber ebenfalls. Natürlich wünscht sich also ein «Mädchen, das mit zwölf von ihrer Familie an einen Ehemann verkauft wird», nicht vordringlich gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Und natürlich ist das Problem des verkauften Mädchens viel schlimmer, viel dramatischer, viel grausamer, als wenn ich weniger verdiene als der Kollege. Nun aber daraus zu schliessen, die geschlechterspezifische Lohnungleichheit sei ein heraufbeschworenes Phantomproblem, wie es die Autorin indirekt tut, ist schlicht falsch. Und eben plump. Dies deshalb, weil sie den Kampf um Gleichberechtigung mit extra radikalen Beispielen lächerlich macht. Das ist unschön, schade und unnötig, auch wenn man dadurch den und die ohnehin feminismusfeindliche/n Leser:in auf seiner Seite weiss (wenn man das denn will). Das gelingt, wenn man genüsslich aus einer aktuellen Inszenierung am Theatertreffen zitiert («Fickt das Patriarchat»), das Buch «Das Patriarchat der Dinge» erwähnt («genderunsensibles Bauen durch Architekten wie zu schmale Trottoirs, die die Kinderwagen schiebende Frau vergessen haben) oder schreibt, dass sogar die «glücklich verheiratete Frau» für diese oder jene Feministin als Opfer gelte, weil die Institution Ehe das Patriarchat schütze. Birgit Schmid schlussfolgert dann: «Der derzeitige Diskriminierungsdiskurs lässt also keine andere Deutung zu, als dass dem Feminismus die Argumente ausgehen.» Was für ein Hohn. 

Ist alles gut, nur weil man mich nicht zwangsverheiraten oder verkaufen kann? Ist die Gleichberechtigung wirklich erreicht? 

Frauen verdienen noch immer weniger als Männer. Nach dem ersten Kind sinkt der Lohn der Frauen, während der des Mannes tendenziell steigt. Frauen arbeiten viel häufiger Teilzeit. Sie leisten mehr unbezahlte Arbeit. Ihre Rente ist deshalb tiefer als die der Männer. Bei der Jobsuche werden sie aufgrund eventuell drohender Mutterschaft systematisch benachteiligt. Frauen haben ein grösseres Armutsrisiko. Sie sind in der Politik und in Führungsgremien überall untervertreten. 

Sicher ist es bei uns besser als anderswo. Und seit es besser ist, weiss ich, ganz nach Tocqueville: Gut ist nicht genug.

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