Bücher-Boxen bilden

Bücher-Tauschboxen sind toll! Seit sie aufgekommen sind, lese ich wieder viel mehr. Jeder Tauschplatz verdankt sein Sortiment anderen Bücherwürmern, und so hat jeder nach seinen Quellen einen eigenen Charakter. Ich habe zwei Favoriten, wo ich zuverlässig ganz nach meinem Geschmack Belletristik und Sachbücher aus den verschiedensten Epochen und in vielen Sprachen finde. 

Meine jüngste Entdeckung ist etwas Altes: Victor Klemperers Kritik an der Sprache des Dritten Reiches, die er «LTI» (Lingua Tertii Imperii) nennt. Sein zwölf Jahre abbildendes «Notizbuch eines Philologen» entstand während Hitlers Schreckensherrschaft und wurde 1946 erstmals publiziert. Es ist nicht nur die erste Kritik an der nationalsozialistischen Sprache, sondern sie ist auch feinsinniger in eine differenziertere Gesellschaftsanalyse eingebettet, als man es von späteren Dystopien (1984, Handmaid’s Tale, Brazil etc.) so kennt. Ich hatte zu Beginn Widerstände, mich auf die abgrundtiefe Düsternis jener Zeit einzulassen – aber Klemperer hat die Gabe, trotz aller Ohnmacht fast heiter zu bleiben, so als hätte er mitten im Wüten des Holocausts diesen bereits überstanden. 

Seine Analysen und vielfältigen Illustrationen des Zusammenhangs von Volksverdummung und Kriegstreiberei sind leider auch im 21. Jahrhundert wieder aktuell (Berlusconi / Trump / Putin). Das Werk an sich hat mich in meiner Meinung bestärkt, dass Sprache das Bewusstsein prägt, und dass es daher wichtig ist, den zeitgenössischen Manierismen nachzuspüren. Korrekte Sprache hat nichts Ewiggestriges, und nicht jede Modetorheit ist natürlicher Sprachwandel. Bezeichnenderweise lässt vernachlässigtes Korrektorat heute gerade in den Publikationen des (Bildungs?-)Bürgertums die Sprachpflege vermissen, während die ungestüme Linke etwa in der WoZ deren Stilblüten anprangert … Nicht der einzige Ort, wo sich das Wertepaar konservativ-progressiv anscheinend in sein Gegenteil verkehrt hat. 

Für mich sind das tröstliche Gedanken, nicht nur in Zeiten von «Lügenpresse» und «Chat GPT». In meinem Beruf als Lehrerin (!) war ich als intellektuelle Sprachbewusste oft genug Ruferin in der Wüste. Im Schulhaus B. etwa war die Belegschaft stolz auf ihre Nicht-Intellektualität, Mainstreamtauglichkeit und Volksnähe. Niemand ausser mir fand das Motto einer Projektwoche zur Aufhübschung des Schulhauses anstössig: «Pimp my School» … Sagte jemand etwas Politisches, erstarb augenblicklich das Tischgespräch, bis die Peinlichkeit mit der Frage nach der neusten Bachelorette überbrückt wurde. Lobte man jemandes Sprachmacht, etwa: «Du kannst so gut schreiben!», dann nur, um ihm das Sitzungsprotokoll anzuhängen. Grundsätzlich war Intellektualität weltfern, ja gefährlich: Präzises Sprechen wurde als unfaire Waffe empfunden, die andere wehrlos machte. Aus meiner Unkenntnis einer TV-Nachricht entspann sich einmal ein Dialog, in dem ich darlegte, ich hielte mich mit der WoZ inkl. Diplo, mit Fachzeitschriften, Sachbüchern und politischen Radiosendungen auf dem Laufenden. Was zum Fazit des Gegenübers führte: «Was, Tageszeitung auch nicht? Aber man muss doch wissen, was auf der Welt geschieht!» Ich rettete mich, indem ich einräumte, beim Pendeln im ÖV auch die Gratiszeitung zu lesen …

Das tue ich heute nur noch in Ausnahmefällen. Denn am Bahnhof meiner Wahl steht ja – eine Bücherbox!

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