Gräben in den Köpfen

Stadtluft macht frei. Dieses geflügelte Wort stammt aus dem Mittelalter. Damals setzten sich Leib­ eigene auf der Flucht von ihrer Grundherr­schaft in die Städte ab. Das führte zum Rechtsbrauch, dass Leibeigene nach Jahr und Tag nicht mehr von ihren Grundherren zurückgefordert werden konnten. Sie wurden also durch die Stadt frei. Selbstverständlich war diese neue Freiheit sehr schnell und sehr oft mit ökonomischer Unfreiheit verbunden, aber das geflügelte Wort hat sich bis in die heutige Zeit gehalten.

 

Die Auseinandersetzung rund um die Züri­Ci­ty­Card ist auch in dieser Tradition zu sehen, auch wenn sich damit kein Rechtsanspruch verbindet. Das Vorbild für die City­Card sind die nordamerikanischen Städte, die sich selbst als «Sanctuary Cities» verstehen:

Als Zufluchtsorte und Heimat für alle StadtbewohnerInnen, auch jene ohne legalen Aufenthaltsstatus. Die Züri­City­Card will einen Ausweis schaffen, mit dem sich auch jene ausweisen können, die dies heute nicht können, und damit eine gewisse Teilhabe ermöglichen, die heute Sans­Papiers ver­wehrt bleibt. Die City­Card ist rechtlich kein Ausweis und gewährt auch keinen Aufent­haltsstatus. Sie ist aber dennoch ein Symbol dafür, wie man Stadt definiert und wer als Bewohnerin oder Bewohner gesehen wird.

 

Die SVP hat am ersten August eine Kampa­gne gegen die Städte gestartet, gegen ihre BewohnerInnen und ihre Politik. Rechte Rhetorik gegen Urbanität und gegen Städte ist allerdings nichts Neues und auch nichts Schweizerisches, sondern eine Konstante konservativer Politik. Die Soziologin Franziska Schutzbach schreibt: «Die Stadt repräsentiert Moderne, Kultur, Anti­Tradition, Kritik, Wissenschaft, Pluralismus, Queerness, selbstbestimmte weibliche Existenzweisen – die Stadt war schon immer eine Klammer für faschistische und völkische Feindbilder. Die Stadt ist (…) Anti­Heimat, sie ist die Heimat der Exilanten und verlorenen Seelen, die Stadt ist individuell, vorübergehend, sie löst enge patriarchale Familien­ und Dorf­ strukturen. Die Stadt ist Freiheit, manchmal schmutzig, manchmal elend, und arm. Rechte Propaganda setzt früher wie heute der ‹ver­dorbenen Stadt› eine idealisierte Vorstellung von Land entgegen.» Oder wie der Stadt­ forscher Philippe Koch in einem Interview mit dem ‹Tages­Anzeiger› meint: «Konservative Parteien bedienen den Stadt­Land­Graben mit dem Ziel, Ressentiments gegen Eliten, Konsum und Modernisierung zu wecken – nicht nur in der Schweiz.»

 

Dabei geht es nicht nur um den Gegensatz zwischen «Natur» und «Kultur», sondern auch um Hierarchien. Dass eine Gesell­schaft Hierarchien hat und haben muss,
liegt im Kern konservativer Ideologie. Die Hierarchie gibt der Gesellschaft Ordnung und weist Menschen einen Platz darin zu. Diese «göttliche Ordnung» betrifft dabei nicht nur den ökonomischen Status, sondern auch eine Hierarchie der Geschlechter, der sexuellen Orientierung, der Nationalität oder der Hautfarbe. Selbstverständlich ist auch eine konservative Weltsicht nicht nur statisch – auch hier findet eine Anpassung
an Realitäten statt. So würde sich wohl kaum mehr eine Mehrheit von Konservativen gegen das Frauenstimmrecht aussprechen. Und die Abstimmung zur Ehe für alle zeigt, dass auch hier teilweise Weltbilder ins Wanken geraten sind.

 

Im immer noch lesenswerten Buch «Zivil­ gesellschaft von rechts. Die Erfolgsstory der Zürcher SVP» von 1995 zeichnen die Autoren Hans Hartmann und Franz Horvath den Aufstieg der Zürcher SVP zur grössten Partei nach. Die Erfolgsgeschichte der modernen SVP begann ironischerweise in der Stadt. 1993 schaltete die Zürcher SVP ein Inserat, das zeigte, wie ein Messerstecher eine Frau angreift, mit der Schlagzeile: «Das haben wir den Linken und Netten zu verdanken: mehr Kriminalität, mehr Drogen, mehr Angst.» Diese Provokation sorgte für Empörung, rote Köpfe, aber auch Aufmerksamkeit und Erfolg. Die SVP wiederholte dieses Muster seither immer wieder. Mit «Buurezmorge» inszenierte die SVP damals das Gegenbild der ländlichen heilen Welt auch in der Stadt, wo es längst keine Bauern mehr hatte. Dass dieses Inserat damals Erfolg hatte, hat auch mit der Stadtgeschichte zu tun. Die offene Drogenszene war eine grosse Belastung für die Betroffenen und die Bevölkerung. Die Stadt war finanziell schlecht aufgestellt, wer es sich leisten konnte, zog weg. Man sprach von der A­Stadt, einer Stadt, in der nur noch Arme, Alte und Arbeitslose übrigblieben. Nach dreissig Jahren rotgrüner Stadtratsmehrheit ist aus der A­Stadt eine Triple­A­Stadt geworden, deren Problem die grosse und nicht die mangelnde Attraktivität geworden ist: durch mehr Wachstum, Verkehr und Mangel an zahlbarem Wohnraum.

 

Die Stadt als Elend und als Ort der Unsicher­ heit zieht längst nicht mehr, auch wenn es
die SVP – auch im jüngsten Nationalrats­ wahlkampf – immer wieder probiert. Wohl auch daher hat sich jetzt das Angriffsbild gewandelt. Jetzt stehen «Luxus­Sozialismus» und «grüne Bevormundung» am Pranger. In der Stadt wird das kaum ziehen, die SVP hat sie ganz offensichtlich elektoral aufgegeben. Das ist durchaus auch ein Erfolg der urbanen Linken. Diese Erfolgsgeschichte gilt es auch zu erzählen, auch wenn man sich selbst­ verständlich nicht nur mit dem Erreichten zufrieden geben soll.

 

Es gibt einen starken medialen und politi­schen Reflex, Strategien und Kampagnen der SVP für klug und geschickt zu halten. Ob dies auch für eine elektorale Selbstverengung gilt, wage ich zu bezweifeln. Das wäre eigentlich eine Chance für den Freisinn. Ob er sie allerdings nutzen kann oder will scheint mit seiner jetzigen politischen Neujustierung auf nationaler Ebene fraglich.

 

Der Stadt­Land­Graben ist nicht nur ideologisch nur einer in den Köpfen. Schliesslich gibt es in der Schweiz weder Grossstädte noch kaum totale ländliche Abgeschieden­heit. Es dominiert die Agglomeration und die Verstädterung, die vielleicht in den Köpfen noch nicht überall angekommen sind. Nur verwandelt sich eine Stadt mit 20 000 EinwohnerInnen nicht zur ländlichen Idylle, wenn sie sich gegen die Einführung eines Parlaments wehrt.

 

Während wir uns siedlungstechnisch annähern, wird der politische Graben zwischen Stadt und Land dennoch nicht so einfach verschwinden. Das ist auch nicht schlecht: Sie gibt der Linken auch die Chance, ihr Gegenmodell zu zeigen und zu entwickeln und ja, auch zu feiern. Das ent­bindet niemanden davon, auch gelegentlich voneinander zu lernen.

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