Gehässigkeit hat Pause

Mein Vater selig pflegte im Geschäftsgebaren relativ stur an der Gepflogenheit festzuhalten, alle zu Siezen, weil er der Meinung war, einem möglichen Vertrauensverhältnis stünde diese Ansprache keinesfalls im Weg, dafür wäre im gegenteiligen Fall die Hemmung sehr viel grösser, «Sie Arschloch» zu sagen. Das war im letzten Jahrhundert und natürlich eine blosse Kommunikationskrücke, um ein Mindestmass an gegenseitigem Respekt walten zu lassen. Nach der letztjährigen Zurich Pride, in deren Vorfeld vornehmlich in den sogenannt Sozialen Medien verbale Attacken zwischen Minderheiten der Minderheit gegen andere Minderheiten der Minderheit und zurück gefahren wurden, die teils jeden Anflug von Anstand vermissen liessen, lud das Komitee diesmal zum Dialog und stellte den grössten Feiertag der AbisZ-Community unter das Motto: «Lass uns darüber reden.» Und siehe da, in allen Ansprachen und in den analogen Kontakten von Angesicht zu Angesicht wurde allseits das Bewusstsein betont, keinesfalls jederzeit und in allen Belangen fehlerfrei handeln und artikulieren zu vermögen, gefolgt von der Bitte um Aufklärung, Nachsicht und Geduld. 

Als mittlerweile selber alter weisser Mann sind die eigenen Abblitzmechanismen gegenüber Begegnungen mit verbalen Entgleisungen anderer durch jahrzehntealte Praxis beim müden Lächeln angelangt. Nur steht selbst das Klischee meiner selbst heute überhaupt nicht mehr im Kreuzfeuer, weil damit kein Blumentopf zu gewinnen ist. Für schwule Männer hat sich die Situation massiv zum Besseren verändert. Wenn Ernst Ostertag an seiner Eröffnungsansprache ans Jahr seiner ersten Wahrnehmung der eigenen homophilen Anziehung erinnerte, mitten im Zweiten Weltkrieg, und er schon als Zwölfjähriger wusste, dass er dieses als sein bislang grösstes Geheimnis in seinem Geheimnisschatzkästchen sicher verwahren musste, weil er sonst seines Lebens nicht mehr sicher wäre, läuft einem eine ähnlich kalte Schauer den Rücken hinab, wie wenn André Odermatt an seinen ersten Christopher-Street-Day-Umzug vierzig Jahre danach in den frühen 1980er-Jahren erinnert, wo das Gros der Demonstranten aus Angst vor Repressionen noch ihr Gesicht vermummte. Über die Wichtigkeit des sich Erinnerns an die Geschichte der Emanzipation und das Würdigen der Fortschritte sind sich alle einig. Einig sind sich ebenso alle darüber, dass Geschichte keine statische Angelegenheit ist und die Fort- und Weiterentwicklung der Vielfalt innerhalb der emanzipatorischen Kräfte ein nachgerade logisches Kontinuum darstellt. War der Christopher-Street-Day-Umzug in Zürich anfänglich eine reine Schwulenparade, gesellten sich nach und nach die lesbischen Frauen dazu, die trans Personen folgten, und heute sind es non-binäre Personen, die ihr Recht auf Gleichstellung einfordern.

Hinsichtlich der Wirkmacht und des Fundraisings der verschiedenen Vereine und Interessenvertretungen ist die AbisZ-Community aber auch ein blosses Abbild der Gesamtgesellschaft. Männer bekommen mehr Geld zusammen als Frauen, die wiederum mehr Mittel zu mobilisieren vermögen als Strukturen zur Selbsthilfe und politischen Durchsetzung von trans Personen. Dieser Fakt mag stören, darf aber nicht als Anlass dafür angesehen werden, die diversen Anliegen gegeneinander auszuspielen oder sie gar in ihrer Berechtigung in irgendeiner Weise zu kategorisieren oder (ab-) zu werten. «Wir müssen nicht alles verstehen, was eine 19-jährige Aktivistin bewegt», rief André Odermatt über die Kasernenwiese und schob eine beachtlich lange Aneinanderreihung von Abers hinterher. Das eigene Selbstverständnis für die errungenen Fortschritte und die derweil entwickelte und bestärkte eigene Identität soll aber nicht den Blick und die Bereitschaft zum Verständnis dafür vernebeln, dass jeder neuen Generation ihre eigenen Themen unter den Nägeln brennen. «Wir haben die historische Pflicht, uns auch für ihre Themen einzusetzen.» Um diese überhaupt nachfühlbar begreiflich zu machen, benötigen Ältere mitunter Nachhilfe. Zudem ist es einfacher, ein entstandenes Missverständnis oder eine unbeabsichtigt als falsch lesbare Aussage zu korrigieren, wenn die Erstreaktion darauf sich nicht darauf kapriziert, der eigenen Empörung über die gegenüberliegende Nichtahnung Ausdruck zu verleihen und primär beleidigend daherkommt, sondern als eine, die sich aktiv interessiert offen für eine Fortsetzung der Konversation zu erkennen gibt. Es muss jetzt nicht unbedingt das Siezen zurückkehren, damit eine Respektsdistanz sichergestellt werden kann, aus deren Fundament ein kon­struktiver Dialog erwächst. Aber die Bereitschaft, eine Anstrengung für ein umfassendes Verstehen zu unternehmen, kann sich sehr viel ausgeprägter entfalten, wenn sichtlich alle Beteiligten zumindest darum bemühen. 

Natürlich ist das Gespräch mit einem physischen Gegenüber, wie dies etwa Queeraltern und die Milchjugend zu jeweils spezifischen Themen generationenübergreifend organisieren, heute nicht mehr für alle der primäre Kanal für inhaltlichen Austausch. Einigermassen irritierend in den sogenannten Sozialen Medien ist auch die Veränderung hinsichtlich der Aufmerksamkeitsgenerierung. Mit der Eigenstilisierung als Superchecker:in oder im genauen Gegenteil als Superopfer ist weitaus mehr Reichweite zu erlangen als mit der sachlichen Erläuterung von Zusammenhängen. Gegen das Sternchenbashing oder eine Wokeismusproblematisierung mag die Empörung als Erstreaktion angebracht sein, ob sie ungefiltert geäussert am Gewinnbringendsten eingesetzt ist, steht auf einem anderen Blatt. Eine vielversprechendere Verwendung eigener Energie und Grips könnte möglicherweise die fundierte argumentative Gegenwehr sein. Für den Erstreflex könnte ein «heul doch!»-Tweet als latent sarkastischer Bruch den Auftakt dazu bilden, die jeweilige Thematik in eine fortan ernstlich betriebene Aufklärung über die tatsächlich existierenden Mechanismen von Ausschluss und Ausgrenzung zu betreiben, die ein Bewusstsein und die Nachfühlbarkeit für ein bestehendes Unrecht bei Nichtbetroffenen weckt. Die Neugier scheint gegenüber einzelnen Buchstaben im AbisZ, der Typographie und der Nonbinarität ausgeprägt vorhanden zu sein, sonst landeten den Istzustand betonieren wollende Gegner:innen mit ihrem Zündeln höchstens unter fernen liefen, wo die Provokationen auch hingehören. Aber um gesamtgesellschaftlich zu reüssieren, und die Hetzer:innen ins Leere laufen zu lassen, hilfts, überzeugte Verbündete zu finden. So wie etwa 2005, als der Schweizerische Katholische Frauenbund mit seinen 300 000 Mitgliedern zur eigenen Verblüffung bekanntgab, die Anliegen des Partnerschaftsgesetzes zu unterstützen. Es ist also bei Weitem nicht zwingend, in jedem einzelnen Lebensaspekt einer Meinung zu sein, solange alles unternommen wird, um in den zentralen Belangen der Gleichstellung eine Mehrheit zu bilden. 

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