Viele Facetten von Liebe

Zwei während langer Jahre als unnötig empfundene Begleiterscheinungen der Diplomfilme der ZHdK sind dieses Jahr plötzlich nicht mehr da: Die bemühte Überambition und die nicht zu Ende gedachte Dramaturgie. Das macht den aktuellen Jahrgang zu einer Reihe erfrischender Begegnungen.

Die Liebe als Verheissung ist offenbar allein den Groschenromanen vorbehalten. Das familiäre und das intime Zusammenleben indes sind trotz allem vielfältiger Quell von Dringlichkeiten, die gerade wegen ihrer individuell nicht als stromlinienförmigen, reibungslosen Wahrnehmung nach einer Verarbeitung verlangen. Basil Burgers «Hr. Karlsen» beginnt mit dem Befreiungsschlag von Tochter Lara (Anna Krajci), die sich nicht anders zu helfen weiss, als eine räumliche Trennung von ihrem Vater (Yves Raeber) herbeizuführen. Sie muss Fakten schaffen, weil Hr. Karlsen seit dem Hinschied seiner Gattin vor vier Jahren in einer Trauerschlaufe feststeckt, aus der ihn die Tochter weder mit Locken noch mit Drohen hinauszuholen vermag. Also zieht sie in eine eigene Wohnung. Ein Kinderbuch, das die Verklärung alles Rückwärtigen als Idylle für den Vater ermöglicht, weil es ihn an Lara als Kleinkind wie an seine Gattin als während des Vorlesens stets wegdämmernde, fürsorglich liebende Mutter erinnert, liegt in einer der Kiste des zu Entsorgenden. Ein Minidisput exakt über den künftigen Verbleib dieser paar Seiten erklärt zeitgleich Vorgeschichte, Problemlage und zeigt final in die Richtung einer einhelligen Lösung.

M. Reza Jafari verlegt die liebevolle Hinwendung in «Nowrooz» auf einen Akt von Stellvertretung. Der Filmemacher selbst bricht als Ahmad in einem nicht genauer definierten Ort, vermutlich irgendwo im Kaukasus, ins Haus von Maryam (Zarina Tadjibaeva) ein, weil er und sein Kollege darin etwas mehr als bloss das dringendst Notwendige vermuten. Wider Erwarten ist Maryam zu Hause und spielt die Karte der Gastfreundschaft. Ahmad muss im Alter ihres eigenen Sohnes sein, von dem der Eindringling eine Todesanzeige findet, was seine ursprünglich kaltblütige Raubabsicht noch stärker durchkreuzt, als es Maryam mit ihrer herzlichen Fürsorge bereits tut. Eine Golduhr als Symbolik für Wertigkeit im allein monetären Verständnis erhält im Film eine vordergründig zentrale Rolle, wohingegen der tatsächliche Wert von humaner Zuwendung in der Zwischenmenschlichkeit an deren statt sich subtil als die tragfähigere ergo viel zentralere Überlebenswährung in den Vordergrund drängt. Ähnlich wie das Kinderbuch ist diese Golduhr blosse Steigbügelhalterin, um daran ein grösseres Universum an Zusammenhängen und Hintergründen erzählerisch aufzufächern.

Liebe lange Leitung

Mittendrin im Rausch der Endorphine alias Verliebtsein ist die Selbstwahrnehmung bis teilweise nahe einer Selbstverleugnung getrübt. Frida (Edith Kaupp Rivadeneira) befindet sich in Vanessa Blättlers «Sin Razón» gerade auf der Kippe zum Sprung zurück in den Realitätssinn. Die sie umgebende Kühle einer medizinischen Einrichtung spräche für sich allein schon Bände, aber das Eingeständnis, sich auf dem totalen Holzweg bezüglich der Verbindung zu Nino (Benjamin Spinnler) befunden zu haben, ist augenscheinlich noch nicht reif, sich als Dominante durchzusetzen. Sein Billigblumenstrauss erfüllt den Tatbestand des Heuchlerbesens, ist aber im Gegensatz zum eigenen Schuldbewusstsein Ninos nachgerade ein Symbol für eine nachhaltig grosse Veränderung. Denn auf das Gesäusel der halbherzigen Entschuldigung folgt ein neuer Ausraster Ninos, der nur der Umgebung geschuldet, innerhalb der verbalen Entgleisung verbleibt. Bei Frida aber fällt jetzt der Zwanziger. Endlich. Nach ihrer Entlassung sucht sie Anreize zur Harmonie im Hedonismus der Klubkultur und findet diese für sich selbst völlig unerwartet in der aufrichtigen Zuneigung einer fremden Frau. Jetzt scheint ihr die eigene Vergangenheit wie Schuppen von den Augen zu fallen und der Weg offen zu stehen, diese zu verarbeiten, als auch für eine künftige offen zu sein.

Sichtlich noch weiter weg von einer Realität befindet sich O. (Julia Mach) in «A Monster Called Love» von Sophia Lara Nimue Schweizer. Ob es in dieser körnigen, nach Super-8-Film empfundenen Ästhetik überhaupt je einen Wachzustand gibt, oder ob letztlich alles blosse Traumsequenzen sind, ist nicht leicht festzustellen. Jedenfalls verfällt O. nach einem Albtraum in eine traumwandlerische Welt der gegenüberliegenden Gefühlslage nahe einer ekstatischen Erfüllung von (tendenziell stereotypen) Sehnsüchten. Ein langhaariger Beau, Typ Töfflibueb mit Lederjacke, erscheint ihr als Messias vor dem inneren Auge, und alles erscheint gut. Doch ganz so simpel will sich diese Märchenwelt nicht ins Hier und Jetzt hinübertricksen lassen, wie ein von O. mühselig herausgewürgter Schmetterling symbolhaft zu erkennen gibt. Eine Gewahrwerdung im Sinne einer Traumdeutung.

Rettungsansätze

Inwieweit Geschwisterliebe eine elterliche Verwahrlosung bis hin zur Gewaltanwendung aufzuwiegen überhaupt in der Lage sein könnte, stellt Angela Kuhn in «Auge zue» zur Disposition. Die kleine Floh (Moana Aicher) kann vor lauter Streitlärm aus dem Nebenzimmer der ärmlichen Behausung kaum ein Auge zutun. Ihr grosser Bruder Lukas (Roman Kiwic) ist nur für ein Wochenende aus dem Militär zu Hause, also regelrecht gezwungen, später wieder einzurücken. Die Zeit ist sehr begrenzt, was der Monstrosität der Problemlage entschieden zuwiderläuft. Nach einer regelrechten Flucht ins dreckige Nass der Umgebungsnatur findet Lukas seine kleine Schwester eingeschüchtert, vor Kälte und Nässe zitternd und richtet sie brüderlich zärtlich unter der warmen Dusche wieder her. Das Mal einer Misshandlung veranlasst ihn, ihr vorzuschlagen, gemeinsam alle Bedenken von potenziellen juristischen Folgen für beide in den Wind zu schlagen und auf der Stelle für immer gemeinsam zu verschwinden. Woher indes vor einer solchen Ausgangslage überhaupt der Mut zur Überwindung alles Bisherigen (Eingeübten) dafür herkommen sollte, bleibt als unlösbares Rätsel bis zuletzt als Frage bestehen. Also wirds nix mit Ausbüxen.

Auch der Ausgang von Tobias Wanners «Klemens – Aus Liebe zu den Dingen» bleibt offen. Der Film ist ein Portrait von Klemens Niklaus Trenkle, der offenbar seit Jahrzehnten technisches Gerät vor der Entsorgung bewahrt. Und dies in einer Grössenordnung, die Lagerhallen füllt. Analoge Synthesizer, Röhrenverstärker, Kassettendecks und vieles andere Dinge behandelt er mit der Vorsicht eines Archivars und Restaurators, wie es im Zusammenhang mit Kunst nicht ausgeprägter sein könnte. Die Frage aus dem Off, was ihn von einem sogenannten Messie unterscheiden würde, wird von ihm als überhaupt nicht zielführend in den Wind geschlagen, schliesslich ist seine aktuell grösste Sorge, dass er die riesigen Lagerhallen räumen muss und er händeringend nach einer neuen Unterbringung für seine Schätze sucht, bislang ohne Erfolg. Wovon er das bezahlen soll und wovon er überhaupt lebt, bleibt bis zuletzt ein Rätsel. Aber die doch eher ausgeprägte Schrulligkeit der Hauptfigur wird von Tobias Wanner nie vorgeführt, sondern als liebenswert auf Augenhöhe vorgestellt.

Gewahrwerdung

Der vielleicht einprägsamste Film bezüglich Inhalt und Form ist «And the Wind Weeps» von Aulona Selmani, allerdings ist er auch der einzige gezeigte Abschlussfilm eines Masterstudiengangs. Mittlerweile dreissig Jahre nach den Jugoslawienkriegen sitzt Daut (Bislim Muçaj) in einer abgedunkelten, einfachen Wohnung, und sein einziges noch zu erfüllendes Ziel in diesem Leben ist – notebene seit zwanzig Jahren – die authentisch-aufrichtige Niederschrift einer Zeugenaussage für den Europäischen Menschengerichtshof in Den Haag, der eigenen Erlebnisse und der Geschehnisse um den gewaltsamen Tod des eigenen Sohnes. Die Zweifel werden mit jedem Jahr der Distanz zur Erinnerung grösser, und plötzlich erwachsen in ihm sogar noch weitere, weil in seinem Drang zur Perfektion plötzlich auch bislang überhaupt nicht berücksichtigte Leerstellen offenbar werden. Wie die, dass er seine Frau zu deren Lebzeiten gar nie gefragt hatte, was mit den Frauen nach deren Verschleppung in die Wälder geschehen war. Der Film ist in sich dicht verwoben, wählt einen universellen Erzählansatz und trifft als formale Übersetzung einer Unbedingtheit emotional nachfühlbar ins Schwarze.

«Heimisch» von Zoë Bayer rekonstruiert den gewaltsamen Überfall einer gewaltbereiten Dorfjugend auf ein Jugend-und-Sport-Zeltlager, bescheidet sich aber auf die situative Nacherzählung der drei alleine anwesenden Leiterinnen. Der Drogenbeschaffungskrimi «Zu dä Sunnä» von Ivan Avramovic ist optisch opulent und hinsichtlich den negativen wie den unerwartet positiven Begegnungen der Hauptfigur Nia (Wanda Winzenried) überraschend. Nicht zuletzt ist die Kindheitserinnerung «Haiwäg» von Konstantin Shishkin über ein damals nicht nachvollziehbares Verhalten des Grossvaters auch ein spätes Heureka!-Erlebnis, das sich erinnernd vor dem inneren Auge des heute Erwachsenen wie ein Film abspielt.

«ZHdK-Diplomfilme 2023», 20./22.6., Kino im Campus Toni, Zürich. www.filmstudieren.ch

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