Samstagnacht, Lochergut, zwischen Ararat und Sacchi-Bar. Philipp Meier kommt ohne Leiterwagen und ohne Feuerschale. Es sei eigentlich schon zu warm für die mobile Feuerstelle, die Leute zu «aufgekratzt», wie er es nennt. Mit dem Stacheldraht-Tattoo am Hals und dem modebewussten Mohawk schätzt man den 57-Jährigen mindestens 10 Jahre jünger, als er ist. Auch, weil verwaschene pinke Tönung das Grau seiner Haare gut kaschiert. In kälteren Nächten sitzt Meier regelmässig mit seiner Feuerschale hier, auf dem Schaufenstersims der Express-Schneiderei, und wartet – auf flüchtige Interaktionen und Gespräche mit Tiefgang. Es gehe ihm nicht darum, irgendeiner «echten, menschlichen Interaktion» zu Zeiten von Social Media und Smartphone-Isolation ein Comeback zu bereiten, sagt er – eigentlich sei es umgekehrt: «Ich wollte die Zufallsbegegnungen, die man dank Algorithmus und Kommentarspalten in den Sozialen Medien hat, in die analoge Realität transportieren.» Das habe er sich anfangs aber gar nicht so überlegt, erzählt er. «Ich mache die Dinge gerne einfach intuitiv und überlege mir später, warum.» Was er in den Nächten am Feuer erlebt, transportiert Meier danach wieder zurück in den virutellen Raum und erzählt es auf Instagram nach.
Dass er als Ort für diese beiläufigen Begegnungen das Lochergut wählt, liege am Kontrast: Die Wohnsiedlung, Wahrzeichen der Stadt und der Hochhauseuphorie der 1960er-Jahre, türmt beige-brutalistisch vor Mensch und Asphalt, Tram und Badenerstrasse. Menschen lachen und rufen durcheinander, Autoposer:innen dröhnen mit Porsche und BMW vorbei, einmal kippt wie scheppernde Dominosteine eine ganze Reihe Mietvelos um. Das kleine, archaische Feuer auf Meiers Wagen dagegen – er holt ihn nach dem zweiten Negroni dann trotzdem, schwarz gespritzt, voll mit Holz, darauf die Feuerschale – erinnert eher an Pfadilager und Cervelat (die Bemerkung mit dem Cervelat habe er schon so oft gehört, dass ihm das Gesicht einschlafe, sagt Meier dazu).
Vom Aargau in den Kreis 4
Überbleibsel eines Aargauer Dialekts sind der einzige Hinweis daruf, dass Philipp Meier nicht schon immer im Kreis 4 lebt. Er ist in Seengen aufgewachsen, ist gelernter Landschaftsgärtner. «Schon eher ein Naturbursche, eigentlich». Im Aargau heiratet er denn auch seine Jugendliebe, nach der Trennung vier Jahre später sehnt er sich nach einer Zäsur. Er zieht 1995 nach Zürich, studiert Kunst, stürzt sich in die Clubszene, organisiert Partys. Bis 2014 führt er das Cabaret Voltaire. Dann der nächste grosse Wechsel, zu Watson in den Journalismus. Heute ist er Community Developer bei swissinfo.ch. «Das Feuer als urzeitlicher Versammlungsort für Menschen ist eigentlich der Ursprung des Community Buildings», sagt er. So gesehen passe es schon zu seinem Beruf.
2021, als Bars und Clubs wegen der Coronapandemie geschlossen sind, stellt Meier das mobile Lagerfeuer zum ersten Mal auf. Einer der ersten Menschen, die sich damals zu ihm gesellt, ist ein Angestellter der Pizzeria um die Ecke. Er freut sich über die Wärme und die Konversation, dankt mit übriggebliebenem Mortadella und Salami aus dem Restaurant. Auch heute kommt er vorbei, diesmal nur mit Bier. Er erzählt, dass er seit 25 Jahren hier wohne, ansonsten sagt er nicht viel. Muss er auch nicht, das Reden übernehmen andere: Immer wieder wird Meier begrüsst, umarmt, angesprochen. Ein paar Freundinnen erzählen lautstark von ihren Traumlos-Gewinnen, ein anderer ruft im Vorbeigehen: «Geile Jacke, die will ich auch!». Meier grinst. Das Lob für seine Kleidung und die allgemeine Aufmerksamkeit missfällt ihm nicht. «Vielleicht hat die ganze Aktion mit dem Feuer schon etwas Selbstdarstellerisches», gibt er zu. Aber sich zu profilieren sei ja für alle Menschen, die etwas verändern wollen, ein Treiber.
Das Feuer sei für ihn eine Art der «künstlerischen Intervention», erzählt Meier. Auf die Nachfrage, was das bedeute, nimmt er das Beispiel zweier Jugendlicher, die gerade wenige Meter entfernt die Lautstärker ihrer Roller-Auspuffe vergleichen: «Das ‹gäseln› repräsentiert Zeitgeist, wenn man will, oder es ist eine Darstellung von geballter Männlichkeit oder Unsicherheit. Wenn man will, ist es aber auch Kunst.» Solange man «die Qualitäten herausschälen» könne, sei alles Kunst. «Kunst ist, wenn man einen Salat macht», reicht er als weiteres Veranschaulichungsbeispiel nach. Die Geräuschfolge des Salatmachens, die als Musikstück interpretierbar sei, zum Beispiel.
Besorgte Mütter, Kaugummizigaretten und Rassismus
Es ist auffällig, dass vor allem Männer beim Feuer anhalten. «Frauen kommen selten vorbei, und wenn, dann nicht alleine», sagt Meier. «Wenn du als Frau alleine unterwegs bist und einen Mann an einem Feuer sitzen siehst, setzt du dich nicht einfach dazu.» Da schwinge immer eine gewisse Angst mit, eine Unsicherheit. Oft seien es Männer mit Migrationshintergrund oder Menschen am Rande der Gesellschaft, die den Weg an die Feuerschale finden. Und oft bekäme er im Gegenzug für die Wärme Kleinigkeiten geschenkt: Einen Apfel, Kaugummizigaretten, halluzinogene Pilze. Manchmal kommt niemand vorbei, dann scrollt Meier auch gerne ein paar Stunden auf Tiktok. Wenn jemand vorbeikomme, dann sei die Stimmung – mit oder ohne Pilze – meist gut, die Gespräche so divers wie die Personen am Feuer.
Sie alle bekommen auf Instagram eine bündige Bezeichnung: «Die Mutter», die ihre 19-jährige Tochter an eine Party begleitete, weil diese «viel zu naiv» sei, (Meier werweisst, ob dahinter nicht die Kontrollsucht der Mutter stecke), «Der Gastronom», ein Bekannter, der so viel redet, dass Meier irgendwann antäuscht, nach Hause zu gehen und sich später wieder hinsetzt, «die Lauten» und «der Ruhige». Einer erzählt grosskotzig, dass er für seinen Geburtstag die ehemalige Penthouse-Wohnung von Udo Jürgens mieten werde, andere wollen darüber diskutieren, ob es ein gesellschaftliches Bewusstsein gebe (Meier findet: Ja, und es ist auf Plattformen wie Tiktok erlebbar). Die Gedankenprotokolle thematisieren aber auch Sexismus, Rassismus und toxische Maskulinität, die ihren Weg an den Feuerwagen finden. Einmal habe ein Betrunkener das ganze Holz ins Feuer werfen wollen – und zwar als revolutionäre Geste. «Ich sagte ihm: Wenn du wirklich etwas bewegen willst, musst du die Häuser anzünden, nicht das Holz. Im Holz versteckt sich das Kapital nicht».
Penibel, progressiv, berufsjugendlich?
Philipp Meier reflektiert diese Vorkommnisse und die eigene Reaktion darauf in seinen Posts, fragt sich, warum er im Gespräch mit Menschen, die nur gebrochen deutsch sprechen, automatisch seinen Akzent dem ihren anpasst oder bereut den «Fauxpas», zwei Personen nach ihren Jobs gefragt zu haben. Auf Instagram, aber auch im persönlichen Gespräch wählt Meier seine Worte mit Bedacht, spricht von «People of Colour» oder «weiblich gelesenen Personen». Die penibel-progressive Sprache könnte für einen Mann in seinem Alter aufgesetzt, berufsjugendlich, erscheinen. Andererseits sind auch die wenigsten von Meiers Altersgenoss:innen auf Tiktok unterwegs. «Im Gegensatz zu vielen Menschen, die ein gewisses Alter erreicht haben, ruhe ich mich nicht auf dem Zeitgeist, der zu meiner Jugendzeit blühte, aus», lautet Meiers Begründung. Er bleibe neugierig.
Die Neugier treibt ihn dazu, bald «neue Milieus» erkunden zu wollen. Vielleicht will Meier Sozialarbeiter werden, erzählt er. Aber dafür fehle ihm die Ausbildung. Auf den Hinweis, beim Journalismus, Eventmanagement und in der Gastronomie habe ihm ja auch die Ausbildung gefehlt, antwortet er nach einigem Überlegen: «Dann fehlt mir wohl im Moment das Selbstvertrauen.» Mittlerweile, es ist gegen 4 Uhr morgens, sind die Motoren ums Lochergut verstummt, abgesehen vom Stammgast aus der Pizzeria, Meiers Schwägerin und ihrer Freundin, die am Feuer stehen, ist kaum mehr Fussvolk unterwegs. Womöglich ist Meiers Stimmung vom Negroni etwas nachdenklicher geworden, als er die Frage, wie lange er das mit der Feuerschale denn noch mache, beantwortet. Vielleicht sei das das letzte Mal gewesen. «Ich denke, ich habe den Platz lange genug besetzt.» Zeit für die nächste Zäsur.