The Real Life

In den letzten Monaten, in denen mich ein Bandscheibenvorfall wortwörtlich niedergestreckt hatte, habe ich viel gelernt. Zum Beispiel, dass mich ein Buch bei starken Schmerzen nicht ablenken kann, das Internet hingegen schon. Jetzt könnte man natürlich ebenso intelligent schauen wie lesen, aber leider bin ich auch in gesunden Phasen sehr angetan von Reality-TV und einzig der Zeitmangel hindert mich, dieser Leidenschaft nachzugehen. Und auch ein wenig die Vernunft. Beides hatte ich nun während langen Wochen nicht mehr.

Ich mochte Reality-TV-Shows schon, bevor es sie gab, wie ich heute weiss. Als Jugendliche fuhr ich nämlich abends jeweils nach dem Sporttraining ganz langsam an den Häusern vorbei nach Hause, damit ich in die hell erleuchteten Wohnzimmer mir völlig fremder Menschen schauen konnte. Das ist sozusagen die analoge Vorgängerin der heutigen Shows. Nie hätte ich mir damals träumen lassen, dass ich in ferner Zukunft einmal nicht mehr heimlich vor Fenstern rumlungern muss (ok, so schlimm war es nie), sondern ganz offiziell in fremden Leben stöbern darf. 

Nachdem ich nun das Internet leergeschaut habe, bin ich allerdings etwas, wie soll ich sagen, verunsichert. Während ich nämlich das Hässliche ausschliesslich in den klassischen Trash-TV-Formaten zu finden meinte, wo es auch sehr gut verträglich ist, so emotional, ist das Drama anderswo, in einer stilleren Ecke und dort dafür umso grausamer. 

Ich stellte sogar fest, dass, wenn man nun, sagen wir, «The Real Housewives of Beverly Hills» (Die echten Hausfrauen von Beverly Hills) oder auch das Pendant in Utah (dort hat es noch den Zwick, dass sich die ganze Dekadenz in Sichtweite des monströsen Mormonentempels abspielt) schaut, völlig unterwartet eine gewisse Leichtigkeit findet. Eine heitere Gewöhnlichkeit. Man würde sie dort, zwischen Oberflächlichkeiten wie Schönheitsoperationen, Verrat und Shoppingtouren am wenigsten vermuten. Diese «Real Housewives» haben sehr wenig mit der Realität zu tun, aber gerade dort, wo es ein klein wenig echt wird, sind da Frauen, die über sich selbst ziemlich gut lachen können. Sie haben trotz des Geldes ganz vieles nicht im Griff. Diese Selbstironie ist eine entscheidende Eigenschaft, um einigermassen in Würde und vor allem mit etwas Freude durchs Leben zu kommen. Das weiss ich – nicht nur, aber auch –  wegen dem Internet.  

Denn ich habe dort auch das Gegenkonzept gefunden. Nicht auf Netflix, sondern auf Social Media. Ich bin auf eine Frau gestossen, die über ihr Leben berichtet.  Auch eine Art Reality-Format, aber anders als meine amerikanischen Hausfrauen macht sie es anonym. Was ich von ihr weiss, ist, dass sie ein kleines Kind hat, einen Mann und ein bezahlbares Haus zum Kaufen sucht. Sie ist nicht reich, aber sicher auch nicht arm. Sie hat einen Job, ihr Mann auch. Das ist soweit recht unspektakulär, umso wuchtiger ist dann das, was sie schreibt. Denn ihr Leben ist an keiner Stelle auch nur ein bisschen froh. Sie leidet. Das beginnt mit ihrem Partner, der als etwas vertrotteltes Wesen – er kann nicht kochen, ohne dass sie befürchten muss, sie würde vergiftet, noch hält er sich an die (vielen) erzieherischen Konzepte, die sie mühsam mit dem Kind umgesetzt hat, noch hat er generell eine Ahnung von kindlicher Entwicklung, durch ihre Posts stolpert. Er ist eine chronische Enttäuschung und Belastung für sie. Das Kind ist ebenso chronisch unfähigen Betreuer:innen ausgeliefert. Sie muss intervenieren (ob ein Badiausflug im Hort angemessen ist, ob man Filme zeigen darf dort), wünscht sich Unterstützung, bekommt aber keine. Anders als die scheiternden Glamourgirls aus Hollywood möchte sie alles im Griff haben. Ein blöder Vergleich, natürlich. Aber nur fast. 

«Und es macht mich extrem traurig und einsam, hier allein zu kämpfen», schreibt sie kürzlich. Es hat mir das Herz ein wenig gebrochen. Die Nachrichten dieser einen Frau sind ein Hilfeschrei. Und obwohl ich nun viel näher dran bin als früher, als ich nur von der Strasse her in die Wohnzimmer schauen konnte, bin ich immer noch zu weit weg, als dass ich helfen könnte. Denn das würde ich gerne. Ihr sagen, dass man im realen Leben gar nicht so viel im Griff haben muss. Versprochen.

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