Frieden weben, Wunden heilen

Als Kinder flohen Midia Piroti und Ronahi Nemany aus Ost-Kurdistan im Iran in die Schweiz. 27 Jahre später streben sie mit dem Verein «Ashti» nicht nur Frieden, sondern auch eine kulturelle Renaissance unter den Kurd:innen in der Schweiz an.

Zum Anfangen: Wer und was ist der Ashti-Verein? 

Ronahi Nemany: Der Ashti-Verein ist unser Herzensprojekt, das wir vor eineinhalb Jahren ins Leben gerufen haben, als inspiriert von der Jina-Revolution¹. Diese Revolution hat nicht nur uns, sondern die gesamte kurdische Gemeinschaft tief berührt. Wir haben die Unterdrückung und die Herausforderungen, denen die Kurd:innen ausgesetzt sind, von Verwandten und über die sozialen Medien quasi hautnah miterlebt und wollten nicht länger tatenlos bleiben. Unser Ziel ist es, mit dem Verein einen Raum zu schaffen, in dem wir unsere Identität und Kultur bewahren und stärken können.

Midia Piroti: Der Name «Ashti» bedeutet «Frieden». Das spiegelt unsere Vision wider – Frieden zu schaffen, sowohl innerhalb unserer Gemeinschaft als auch in uns selbst. Viele von uns leben seit Jahrzehnten in der Schweiz, aber die Sehnsucht nach innerem Frieden und einer Verbindung zu unseren Wurzeln bleibt. Wir möchten insbesondere der jüngeren Generation zeigen, wie wichtig es ist, ihre kurdische Identität zu kennen und zu schätzen. Und wir wollen ihr zeigen, wie wichtig es ist, sich in der Schweiz politisch zu interessieren und zu engagieren.

Wie setzen Sie sich konkret für diese Ziele ein? 

M. P.: Wir sind politisch und kulturell aktiv. Jedes Projekt, jede Veranstaltung beleuchtet unsere kulturelle Identität und politische Situation. Ein gutes Beispiel ist der Jina-Gedenktag, den wir zusammen mit der SP Affoltern und SP Horgen veranstaltet haben und bei dem wir Bilder der Menschen ausgestellt haben, die während der Aufstände umgebracht oder inhaftiert worden sind. Oder das Kunstprojekt mit Seywan Saedian, das wir zum kurdischen Valentinstag organisieren werden. An diesem Tag ist es bei uns Kurd:innen Brauch, einen Apfel mit Gewürznelken zu spicken und ihn als Zeichen ewiger Liebe der geliebten Person zu schenken. Die Gewürznelken bewahren den Apfel vor dem Verderben, für hundert Jahre, heisst es, und so soll auch die Liebe für hundert Jahre halten. Und wenn nicht, kann man den Apfel ja immer noch kaputtschlagen.

Was bedeutet Ihnen diese Tradition?

M. P.: Dieses Brauchtum wiederzubeleben ist für uns eine Form, unsere Identität zu bewahren und weiterzugeben. Viele Kurd:innen können nicht in ihre Heimat zurückkehren, vor allem, wenn sie politisch aktiv sind – so wie wir. Das Risiko, verhaftet oder schlimmeres zu werden, ist zu gross. Durch die Pflege unserer Sprache und Kultur geben wir uns, aber auch unseren Kindern einen Bezugspunkt. 

R. N.: Dieses Jahr organisieren Vereine und Gruppierungen den kurdischen Valentinstag in 22 Städten weltweit, von Vancouver über Istanbul bis Rojava. Die Herausforderung besteht darin, diese Tradition auch in Ost-Kurdistan wieder einzuführen. Dort ist Kurd:in-Sein gleichbedeutend mit Kriminalität, wir alle sind Staatsfeind:innen. Ein Beispiel dafür ist der Fall von Sarah Mohammedi, die eingesperrt wurde, weil sie den Nachbarskindern Kurdisch-Unterricht gab. Unser Projekt des kurdischen Valentinstags ist daher mehr als nur eine kulturelle Feier; es ist ein Akt des Widerstands und der Affirmation unserer Identität. 

Spüren sie diesen Staatsfeind:innen-Status auch in der Schweiz?

M. P.: Ja – besonders, seit wir uns politisch engagieren. Zum Beispiel haben wir während der Kundgebungen im Zusammenhang mit der Tötung Jinas immer wieder auffällige Personen gesehen, die die Demonstrant:innen gefilmt haben. Und noch immer verschwinden kurdische Menschen, auch hier, in der Schweiz. Wir wissen, wie weit das iranische Regime geht, um seine Gegner:innen zum Schweigen zu bringen. Das hat die Vergangenheit gezeigt.

Was meinen Sie konkret?

M. P.: 1989 wurde Abdul-Rahman Ghassemlou, Vorsitzender der demokratischen Partei Kurdistan-Iran (PDKI), eine Schlüsselfigur im kurdischen Autonomiekampf, unter dem Vorwand von Friedensverhandlungen nach Wien gelockt und dort, zusammen mit seinem Stellvertreter Abdullah Ghaderi-Azar und dem Gastgeber Fadel Rasoul, in einem hinterhältigen Akt durch ein iranisches Mordkommando ermordet. Es gibt Berichte, die sogar behaupten, Mahmud Ahmadineschad, der spätere Präsident des Irans, sei vor der Wohnung Wache gestanden. Die Mörder, Mohammad Jafari Sahraroudi, Mustafa Ajvadi, Amir Mansour Bozorgian, tauchten in der iranischen Botschaft unter und durften auf Druck aus Teheran ausreisen – inklusive österreichischer Polizeieskorte zum Flughafen. Drei Jahre später liess das Regime vier weitere kurdische Politiker in Europa ermorden, darunter der Generalsekretär der PDKI, Sadegh Scharafkandi. Sie waren als Gäste am Kongress der Sozialistischen Internationale in Berlin und wurden in einem öffentlichen Restaurant namens Mykonos erschossen. Es wurde in beiden Fällen klar, dass Staatspräsident Ali Akbar Haschemi Rafsandschani die Morde in Auftrag gegeben hatte. 

Um die Morde des iranischen Regimes in Europa geht es auch in einer Podiumsdiskussion, die sie am 8. Februar veranstalten (Anm. d. Red.: Die Podiumsdiskussion fand nach Redaktionsschluss statt). Warum ist dieses Thema so wichtig für Sie?

R. N.: Besonders der Mord an Abdul-Rahman Ghassemlou hat eine tiefe Wunde in der kurdischen Gemeinschaft hinterlassen. Eine Wunde, die nicht heilt. 

Wieso nicht?

M. P.: Der Fall wurde für uns Kurd:innen nie aufgeklärt. Die Mörder vom Ghassemlou sind auf freiem Fuss, viele von ihnen bekleiden hohe politische Ämter im Iran. Bei der Erschiessung von Dr. Sadegh Scharafkandi hat der deutsche Rechtsstaat reagiert, jener in Wien nicht. Im Gegenteil. Sie haben die Mörder in Schutz genommen und jegliche Aufklärungsarbeit bis heute verhindert. Wir fordern, dass die Verantwortlichen endlich zur Rechenschaft gezogen werden und dass die Tat nicht mehr einfach als «die Wiener Kurdenmorde», sondern als staatlicher Terrorakt anerkannt wird. 

R. N.:: Deshalb arbeiten wir auch an einer entsprechenden Petition. Wir verlangen vom Bundesrat eine Stellungnahme und dass die Bundesversammlung die islamische Revolutionsgarde auf die Liste der Terrororganisationen setzt. Wenn das passiert, war das Podium ein voller Erfolg.

M. P.: Das sind auch die Anliegen unserer Redner:innen. Zum Beispiel der österreichische Autor und Politiker Peter Pilz, der sich schon seit Jahren für die Aufarbeitung des Mords von Ghassemlou einsetzt, oder Kazhal Hajiabassi, die Ehefrau des in Berlin getöteten Fatah Abdulli. Auch wird Fuad Khakibegi stellvertretendend für Mustafa Hijri, den Vorsitzenden der demokratischen Partei Kurdistan-Iran über die politischen Aspekte der PDKI berichten. Vielleicht können sie einige Menschen wachrütteln, wenn sie ihre Erlebnisse teilen. 

Wie können sich interessierte Personen, die eure Bewegung unterstützen möchten, einbringen?

M. P.: Für alle, die sich für unsere Sache inte­ressieren und einen Beitrag leisten möchten, gibt es zahlreiche Möglichkeiten, sich zu engagieren, selbst wenn man kein Mitglied bei uns ist. Uns geht es vor allem darum, dass man für das Richtige steht und aktiv wird – sei es durch Unterstützung bei der Sammlung von Unterschriften oder beim Aufbau von Bewusstsein und Aufklärungsarbeit. Personen wie Fabian Molina, Priska Seiler-Graf und Jon Pult, die sich intensiv mit unserem Anliegen auseinandergesetzt und uns unterstützt haben, sind unschätzbar wertvoll. Wir sind dankbar für jede Form der Unterstützung und sind sicher, dass gemeinsame Anstrengungen unsere Gemeinschaft stärken und vielleicht dazu beitragen können, die Wunden der Vergangenheit ein wenig zu heilen.

 

Link zur Petition: Gerechtigkeit für Dr. Abdulrahman Ghassemlou

¹Jina Mahsa Amini war eine junge Kurdin, die am 16. September 2022 wegen eines angeblichen Verstosses gegen das Hijab-Gesetz von der Sittenpolizei in Teheran festgenommen und wahrscheinlich getötet wurde. Ihr Tod löste die bisher schwersten und am längsten andauernden Proteste gegen das Regime des Iran seit dessen Machtantritt 1979 aus.

²Fuad Khakibegi ist MItglied des Zentralratskomitees der PDKI. Er ist Mitglied der PDKI, seit er 16 Jahre alt ist, setzt sich für Frieden in Kurdistan-Iran ein und wird als Hoffnungsträger der Partei angesehen (Anm. M. P.) 

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