Julia Gerber Rüegg und ihr unerbittlicher Kampf am Zürichseeufer

Anfang März stimmt die kantonale Stimmbevölkerung darüber ab, ob am Zürichseeufer ein durchgehender Fussweg entstehen soll. Kopf der Kampagne ist Julia Gerber Rüegg. Seit zwei Jahrzehnten setzt sie sich für das Vorhaben ein. Wer ist diese Frau?

Julia Gerber Rüegg stellt sich gerne Herausforderungen. Sie nähren sie. Je stärker die Konkurrenz, desto besser. Ihre Waffe ist die Geradlinigkeit. Ihr Motto «Wer A sagt, muss auch B sagen» hat die 67-Jährige verinnerlicht. Hartnäckig? Ja, das sei sie. Verbissen? «Nein, wer das behauptet, hat nicht verstanden, wie politische Arbeit funktioniert.» Seit über zwei Jahrzehnten setzt sich Gerber Rüegg für ein öffentlich zugängliches Zürichseeufer ein. Die Abstimmung am 3. März ist die Krönung eines Kampfes, der weit bedeutender ist, als die Forderung der Uferweg-Initiative erahnen lässt. 

Gerber Rüegg steht auf dem Bahnsteig in Uerikon und deutet auf ein Wohnhaus, das auf der gegenüberliegenden Seite der Gleise am Hang steht. Ein unscheinbarer Bau aus den 1960er-Jahren mit freier Sicht auf den Zürichsee. Eine Fahne hängt aus dem Fenster: «Uferweg Initiative Ja» steht darauf geschrieben, der Umriss eines Graureihers vervollständigt das Bild. Spirituelle schreiben dem Wasservogel Weisheit und Geduld zu. Auch der gesellschaftliche Wandel benötige Zeit, sagt Gerber Rüegg. Die meisten würden zu früh aufgeben.

Die FDP-Tochter wird Feministin

In dem Haus am Hang ist sie aufgewachsen, heute wohnt einer ihrer beiden Söhne darin. Obwohl die einstige Uerikerin heute auf der gegenüberliegenden Seeseite in Wädenswil lebt, liegt ihr viel an dem Ort. Sie schwelgt gerne in Erinnerungen an jene Zeit, in der sie mit ihrem Vater zusammen im Holzboot über den See gerudert und auf dem Etzel frühstücken waren. Sie seien ein gutes Gespann gewesen, hätten die Wochenenden oft in den Bergen verbracht. Heute wäre ihr Vater in der GLP, glaubt Gerber Rüegg, würde ihr Anliegen eines Uferwegs unterstützen. Die Partei entstand jedoch erst lange nach dem Tod des FDP-Kommunalpolitikers. Er starb, als seine Tochter 17 Jahre alt war. 

Auch wenn Gerber Rüegg einige Jahre später ihre politische Heimat statt bei den Freisinnigen in der Sozialdemokratischen Partei fand, habe sie in vielen Fragen eine liberale Haltung. «Aber die Freiheiten sollten für alle gleichermassen gelten, nicht nur für einzelne Individuen», sagt sie. Dass nun ausgerechnet die FDP gemeinsam mit der SVP, der Mitte und EDU gegen die Uferinitiative kämpfen, bezeichnet Gerber Rüegg als ein «merkwürdiges Verständnis von Liberalismus». 

Ungerechtigkeit hält die ehemalige Politikerin nur schlecht aus. In ihren Augen gehört sie abgeschafft. Deshalb trat Gerber Rüegg mit Anfang zwanzig der SP bei – und erregte schon bald nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch die Gemüter. Schon früh setzte sie sich im Gemeinderat für die Gleichstellung der Geschlechter ein; dank ihr gibt es heute Stillpausen während den Ratssitzungen. International bekannt wurde sie im Jahr 1993, als sie forderte, dass die Wädenswiler Gemeindeordnung ins generische Feminin umformuliert wird. Obwohl der Vorstoss am Ende von der Stimmbevölkerung knapp versenkt wurde, trug er massgeblich dazu bei, dass in Deutschschweizer Gemeindeordnungen nun beide Geschlechter genannt werden. 

Die Kehrseite des Erfolgs trug Gerber Rüegg auf ihren eigenen Schultern. Man schickte ihr Hassnachrichten, mied sie in der Öffentlichkeit, bestellte Produkte auf ihren Namen, die sie anschliessend bezahlen musste. Als junge Mutter habe sie das damals stark verunsichert, erzählt sie. Rückblickend gesehen, sei es trotzdem eine wertvolle Erfahrung gewesen: «Mittlerweile vertrage ich Gegenwind besser.» Ein Learning, das wohl nicht nur dem «Fall Wädenswil» geschuldet ist.

Ein gebrochenes rotes Herz

Auf dem Weg vom Ueriker Bahnhof runter an den See läutet ein Telefon. Gerber Rüegg entschuldigt sich, nimmt ab. Am anderen Ende der Leitung hängt eine GLP-Kantonsrätin. «Es ist wirklich entscheidend, dass ihr euch dafür ausspricht. Ohne euch können wir einpacken», die Worte der Uferweg-Verfechterin haben Nachdruck. Gerber Rüegg wirkt überzeugend; als einstige PR-Beraterin weiss sie, welche Knöpfe gedrückt werden müssen. Einige Tage später wird sich die GLP für die Ja-Parole aussprechen. 

Dass die Kampagnenleiterin in der Zürcher Politik kein No-Name ist, hat einen entscheidenden Vor-, aber auch Nachteil: Man kennt sie. Zwanzig Jahre lang politisierte sie für die SP im Kantonsrat. Man habe sie «roti Julia» genannt, sagt der Mitte-Nationalrat Philipp Kutter über Gerber Rüegg. Die beiden kennen sich noch aus ihrer Zeit im Wädenswiler Stadtparlament. Während er den Sprung nach Bern schaffte, versuchte sie es mehrmals erfolglos.

2015 dann der Eklat: Obwohl Gerber Rüegg es in der Legislatur zuvor nur knapp nicht in den Nationalrat geschafft hatte, entschied sich ihre Partei dagegen, die damals 58-Jährige nochmals auf die Liste zu setzen. Sie solle «neuen Kräften» Platz machen, lautete das Argument der Findungskommission. Daraufhin trat die Sozialdemokratin aus der Partei aus. Dass sie für ihr jahrelanges Engagement so wenig Wertschätzung erhalten hat, schmerze bis heute, gibt sie zu. Aber Julia Gerber Rüegg wäre nicht Julia Gerber Rüegg, wenn sie sich wegen dieser Niederlage hätte abbringen lassen, sich für Herzensangelegenheiten einzusetzen – wenn auch als Parteilose. 

«Sie ist eine Steh-auf-Frau», sagt Kutter. Er hätte ihr den Sitz im Nationalrat gegönnt. «Julia war eine gute Politikerin – stets engagiert, war und ist sich nicht zu schade, auch mal jemandem auf die Füsse zu treten.» Heute tritt sie ausgerechnet ihm auf die Füsse: Kutter sitzt im Gegenkomitee der Uferinitiative. Die Forderung nach einem durchgehenden Weg entlang des Zürichsees sei unverhältnismässig, findet er. 

«David gegen Goliath»

Gerber Rüegg bezeichnet ihre Gegner:innen als die «Allianz der Ufer-Millionäre», abgeleitet vom Namen des Komitees «Allianz gegen die Uferinitiative». Hinter der Kampagne vermutet sie viel Geld. Immerhin werden die bürgerlichen Parteien von Organisationen wie dem Hauseigentümerverband Zürich, dem Automobil Club Schweiz oder der Zürcher Handelskammer unterstützt. Die Mittel der Befürworter:innen hingegen seien begrenzt, so Gerber Rüegg. Der Grossteil würde aus Kleinspenden stammen. «Es kämpft David gegen Goliath», sagt sie. Ob die Steinschleuder in ihrem Kampf ebenfalls zum Erfolg führt?

Angekommen am Ufer atmet Gerber Rüegg zum ersten Mal durch. Am Horizont zeichnen sich die verschneiten Berge ab, das Wasser glitzert in der Wintersonne, eine Gruppe Möwen holt zur Landung aus. Sie sei normalerweise nicht so «än Schwätzi», wird sie am Tag nach dem Treffen in einer Mail schreiben. Ihr ehemaliger Parteikollege Jonas Erni muss lachen, als er das hört: «Sie redet gerne und viel. Aber ihre Worte haben immer Substanz.» Das sei ihm aus ihrer gemeinsamen Zeit in der SP Wädenswil geblieben. 

Der See hat eine beruhigende Wirkung. Nicht nur auf Gerber Rüegg. Studien zeigen, dass der Blick in die Weite der Seele guttut. Das würden wohl auch jene bestätigen, die in einem Haus mit Seeanstoss leben – solche hat es an der Goldküste einige. 

Ganz ehrlich, würden Sie es nicht auch toll finden, jeden Tag mit Blick auf den See aufzuwachen?

Doch, bestimmt! Aber es kann nicht sein, dass dieses Privileg nur wenigen Menschen vorbehalten ist. Gewässer in der Schweiz sind ein öffentliches Gut, weshalb sie auch für alle zugänglich sein müssen. 

Aber wir stehen hier ja an einem öffentlich zugänglichen Platz. Ich könnte mich dort auf eine Bank setzen und den Blick auf den See geniessen.

Es geht nicht darum, mehr solche Plätze zu schaffen, sondern diese mit einem Weg so zu verbinden, dass man die bereits bestehenden Grünflächen am See sicher zu Fuss erreichen kann. Momentan ist es so, dass man an der Seestrasse entlang gehen muss, auf der Autos und Lastwagen mit 60 Kilometern pro Stunde vorbeidonnern. Stellen Sie sich vor, Sie hätten noch zwei kleine Kinder mit Sack und Pack dabei. Das ist einfach zu gefährlich. Hinzu kommt, dass ein Spaziergang auf einem Trottoir nichts mit Erholung zu tun hat, wenn die meterhohen Mauern der Häuser am See die Sicht auf das Gewässer verhindern.

Sie wollen also einen Weg zwischen den Häusern und dem See – quasi durch die Gärten?

In erster Linie geht es darum, die See- und Flussufer im Kanton Zürich zu schützen und den Zugang für die Öffentlichkeit zu verbessern. Wie genau das umgesetzt werden soll, steht noch offen. Das muss der Kanton dann mit allen Beteiligten konkret anschauen. 

Müsste der Kanton dafür Eigentümer:innen enteignen?

Auf vielen Grundstücken am Seeufer gibt es ein Wegrecht für die Öffentlichkeit. Wo das nicht so ist, müsste allenfalls Land für den Weg enteignet werden. Wie das beispielsweise auch bei Autobahnen üblich ist. 

Ist das finanziell machbar? 

Ja, um einen durchgehenden Fussweg bis ins Jahr 2050 umzusetzen, würden die Mittel ausreichen. Zumal der Kanton 2014 beschlossen hat, jährlich mindestens sechs Millionen Franken für Uferwege einzusetzen. Nur wurde seither kaum etwas in den Ausbau investiert, weshalb der budgetierte Betrag jedes Jahr verfallen ist.

Auf den Vorwurf der Gegner:innen angesprochen, dass die Uferinitiative aus Neid heraus entstanden sei, reagiert sie verärgert: «Das ist eine üble Diffamierung!» Vielleicht liegt die Ursache ihrer Wut auch darin, dass sie sich auf feindlichem Gebiet befindet. Zwischen Hauptstrasse und Hecke, der See vermutet sich irgendwo hinter dem automatischen Eisentor. 

Konsequent kompromisslos

Gerber Rüegg ist keine, die sich mit ihren Emotionen zurückhält. Eine Eigenschaft, die sie stets an ihr geschätzt habe, sagt die grüne Politikerin Katharina Prelicz-Huber. Anfang der 2000er-Jahre hatten sie im Kantonsrat verschiedene Vorstösse zu Menschenrechtsfragen eingereicht. «Ich glaube, wir sind uns recht ähnlich: von der Art, wie wir ticken, aber auch von unseren Ansichten her.» Wer pointiert argumentiere, müsse auch mal einstecken. Das könne sie gut. Mit Kompromissen habe sie sich hingegen manchmal schwergetan, so Gerber Rüeggs frühere Parteikollegin Monika Spring. In der Konsequenz kam es auch in ihrer beruflichen Karriere zu einer Trennung mit Ansage: Im Jahr 2012 verlor sie aufgrund von Meinungsverschiedenheiten ihre Kaderstelle bei der Gewerkschaft Unia. 

«Wir alle erleben Rückschläge», sagt Mario Fehr. Der amtierende Regierungspräsident kennt Gerber Rüegg schon seit ihren Anfängen bei der SP. Fehr spricht von einem freundschaftlichen Verhältnis. Obwohl sie älter ist als er, bezeichnet sie ihn als ihren politischen «Ziehvater». Sie habe ihr strategisches Gespür über die Jahre immer weiter geschärft, sagt der ehemalige SP-Politiker über ihre Entwicklung. Er scheint stolz, dass sie es ohne grosse Partei im Rücken geschafft hat, die Uferinitiative an die Urne zu bringen. 

Doch was, wenn zwanzig Jahre Engagement umsonst gewesen sind? «Es ist nie etwas umsonst», lautet ihre Antwort.

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