«Frauenforderungen reichen nicht – die Anliegen müssen feministisch sein»

Zwei Feministinnen unterschiedlicher Generationen treffen aufeinander: Anna Rosenwasser und Zita Küng. Warum Frauenforderungen nicht reichen und wieso es wichtig ist, dass der Streik nicht nur feministische Aktivist:innen abholt, verraten die beiden im Gespräch mit Lara Blatter. 

Wie stehen Sie zu Alice Schwarzer?

Anna Rosenwasser: Alice Schwarzer ist eine wichtige Vorkämpferin im deutschsprachigen Raum. Aber ich stehe ihr, wie viele meiner Generation, kritisch gegenüber. Sie hat eine wahnsinnig transfeindliche Haltung und spricht sich gegen das Kopftuch aus.

Zita Küng: Für mich ist sie eine sehr wichtige Person, ich bewundere ihren langen Atem. Dass man verschiedene Positionen zu politischen Fragen hat, finde ich normal. Im Unterschied zu dir, Anna, halte ich sie nicht für transfeindlich und islamophob. Schwarzers Ansichten sind sehr differenziert. 

A. R.: Sie hat ein ganzes Buch über Transidentität geschrieben und darin stehen Dinge, die schlicht und einfach falsch sind. Das sind für mich keine diskutablen Schattierungen. Sie verletzt eine vulnerable Bevölkerungsgruppe, die meiner Meinung nach einen wesentlichen Teil im Feminismus verkörpert: Trans Menschen zeigen mir, dass es keinen falschen Weg gibt, Frau zu sein. 

Warum ich mit Alice Schwarzer einsteige: Wer sich im deutschsprachigen Raum als Feminist:in versteht, der:die hat automatisch eine Meinung zu ihr – oft ist es eine Frage der Generation. Schwarzer selbst gründete die deutsche Zeitschrift Emma. Kürzlich echauffierte sich diese in einem Artikel, dass der feministische Streik sich nicht mehr Frauenstreik nennen will. Und auch diverse Schweizer Medien haben die Debatte aufgenommen. Kennen Sie diese Diskussionen?

Z. K.: Ich persönlich komme mit beiden Begriffen klar. Um die Diskussion zu verstehen, muss man die Geschichte des Frauenstreiks kennen. Er wurde 1991 von Frauen aus den Gewerkschaften initiiert und nicht von jenen aus der feministischen Bewegung. Daraus entstand 2019 dann der zweite Streik. Der damals von Feministinnen und von Gewerkschafterinnen lanciert wurde. Das heisst: Dass beide in einer Demonstration zusammen auftreten, ist eher neu. Jetzt ist die Frage, wer definiert den Streik – seinen Namen und die Anliegen? Der feministische Stempel ist gut, aber wir müssen schauen, dass der Streik möglichst gross bleibt und alle abholt. Nicht nur feministische Aktivist:innen.

Weil sonst die eher konservativ geprägten Frauen nicht mehr streiken?

Z. K.: Konservative Frauen hatten wir schon 2019 kaum dabei. Wir müssen aufpassen, dass wir die Gewerkschaften nicht verlieren. Ich kann den Frauenstreik gerne feministischen Streik nennen. Wenn es aber heisst, ich darf das Wort Frau nicht mehr benutzen, dann schadet das der Bewegung. 

A. R.: Meiner Community wird aus konservativen Kreisen vorgeworfen, man dürfe das Wort «Frau» nicht mehr nutzen, weil es nicht inklusiv genug sei, also trans und non-binäre Menschen nicht mitdenke. Aber dieses Verbot gibt es nicht! 

Also dann ist es o.k., wenn man den Streik noch Frauenstreik nennt?

A. R.: Wenn das Wording «Feministischer Streik» Menschen abschreckt, dann ist nicht das Wort das Problem, sondern dass sie nicht intersektional und feministisch denken. Es gibt viele Frauen in der Politik und Öffentlichkeit, mit denen ich wenig politische Gemeinsamkeiten habe. Das Frau-Sein verbindet nicht per se, es ist das feministisch sein, das verbindet! Darum plädiere ich für den Begriff «Feministischer Streik».  

Spielt es für Sie eine Rolle, von was für Frauen die Forderungen kommen?

A. R.: Frauenforderungen reichen nicht – die Anliegen müssen feministisch sein. Zudem erhoffe ich mir schon, dass der feministische Streik mehr Menschen inkludiert als der Frauenstreik. Wir streiken und kämpfen Seite an Seite mit Menschen, die keine Frauen sind, die aber genauso mitkämpfen. 

Die Bewegung muss also intersektionaler werden?

A. R.: Ja.

Z. K.: Dass verschiedene Formen von Diskriminierung auf fiese Art miteinander interagieren und Situationen verschärfen, ist uns schon lange bewusst. Migration und Frau-Sein, Behinderung und Frau-Sein etwa. Heute wollen wir diese Betroffenen in den Diskurs bringen. Das ist eine grosse Aufgabe, denn genau diese Frauen sind oft jene, die keine Zeit für ein Engagement haben.

Anna Rosenwasser, Sie schütteln den Kopf.

A. R.: Das Problem liegt darin, dass wir uns fragen müssen, warum kommen sie nicht? Wir müssen Mauern abbauen und nicht einzelne Bewegungen gegeneinander ausspielen. 

Harmonie ist oft ein Attribut, dass weiblich gelesene Personen zugeschrieben wird. Ist es feministischer denn je, dass sich die Bewegung uneins zeigt? 

A. R.: Absolut. Aber das bringt mich auch ins Hadern. Kennst du das auch, Zita, wo schaue ich über Uneinigkeiten hinweg und wo setze ich Grenzen? Das ist schwierig. Es gibt Arbeitsaufträge, die mir meine Monatsmiete und die Katzenstreu zahlen, aber gleichzeitig gehen sie mir gegen meinen linken Strich. 

Z. K.: Ja, das wird immer schwierig bleiben. Wir alle haben unsere rote Linie an einem anderen Ort. 

Sie sind beides weisse cis-Frauen, die von i hrem Aktivismus und Engagement leben können. Wie gehen Sie mit Ihren eigenen Privilegien um? 

A. R.: Ich schaue mir selbst auf die Finger, will mich weiterbilden und lese Bücher über Diskriminierungsformen, von denen ich nicht betroffen bin. Gleichzeitig muss man auch damit leben, dass man Fehler macht.

Z. K.: Ja, total. Äussert jemand konstruktive Kritik an mir, dann nehme ich das ernst und will es verstehen und mit dieser Person in einen Diskurs kommen. Aber ich muss oft auch beim Wort «Privilegien» schmunzeln. Es wird inflationär gebraucht. 

Wie meinen Sie das?

Z. K.: Diese Hierarchisierung von Privilegien funktioniert nicht immer. Ich bin als weisses Kind Schweizer Eltern in Zürich aufgewachsen, aber ich kenne Hunger. Wir hatten in meiner Kindheit oft zu wenig Essen. Welche Erfahrung also eine Person in ihrem Leben macht, das sieht man ihr nicht immer an. Alter, Hautfarbe, Vermutung über Klasse, Gesundheit kann man erahnen, aber vieles eben nicht. Und darum darf der Feminismus nicht schematisch werden und sagen: «Weil wir weisse cis-Frauen sind, dürfen wir dies und das nicht.» 

A. R.: Wir müssen uns überlegen, wann ist unser Moment? Ich bekomme viele Anfragen zum Thema Transidentität. Aber macht es Sinn, dass meine Stimme gehört wird? Diese Frage stelle ich mir lieber zu oft als zu wenig. So können wir Sichtbarkeit weitergeben und Allys sein, also uns mit jenen solidarisieren, die anderweitig von Diskriminierung betroffen sind.

Inwiefern beeinflussen Ihre Erfahrungen Ihren Aktivismus? 

A. R.: Mein queerfeministisches Umfeld ist eine Gemeinschaft, die ich mir immer gewünscht habe. Als queere Frau in meiner Community feiere ich auch das Leben. Wir kämpfen für etwas, nicht gegen etwas – dieses Mindset spendet mir Kraft.

Z. K.: «Was hat dich zur Feministin gemacht?», diese Frage stellen mir Journalist:innen oft. Diese Momente kann es geben, aber es gibt unendlich viele Gründe, Feministin zu werden. Für mich ist es unter anderem eine grosse intellektuelle Leistung. Man wird nicht Feministin, ohne dass man sich intensiv über viele Aspekte des Lebens und der Gesellschaft Gedanken gemacht hat.

Anna Rosenwasser, Sie sagten auch, dass Sie viel lesen und sich weiterbilden. Stimmen Sie Zita Küng zu, wenn sie sagt, dass nur wer sich viele Gedanken macht, Feministin wird?

A. R.: Nein, denn im Kopf können wir uns mit rationalen Scheinargumenten das Patriachat rechtfertigen. Für mich hat Feminismus viel mehr mit Intuition zu tun: Ich spüre meine Grenzen und nehme wahr, dass sie überschritten werden, und dann realisiere ich, dass ich mich wehren darf.

Z. K.: Du beschreibst die intellektuelle Ebene als Gegensatz zur Intuition. Damit wir uns Gedanken über Feminismus und das Patriarchat machen, braucht es beide Zugänge. Und dieses Denken verstehe ich unabhängig von unserem Bildungssystem: Feminismus wird ja nirgends gelehrt.

A. R.: Ich gelangte sehr losgelöst von meinem Verstand zum Feminismus. Ein Beispiel: Werde ich im Bus von einem Mann angestarrt, dann sagt mein Kopf: «Du übertreibst, alles easy.» Meine Intuition gibt mir das Gefühl: «Das ist unangenehm.» Feministin werden, heisst darum für mich: Zuerst weniger auf den Kopf hören, mehr auf meine Intuition und dann hinterfragen. Und klar, da kommt der Intellekt ins Spiel. 

Z. K.: Das ist das Entscheidende: Was der Körper spürt, müssen wir mit dem Kopf neu sortieren. Wir müssen die Erlebnisse neu und richtig einordnen und nicht so, wie es uns das Patriarchat gelehrt hat. 

Sprechen wir über das Patriarchat. Das Recht auf Abtreibung wird infrage gestellt, Menschen zeigen sich entrüstet über geschlechterneutrale Toiletten. Die SVP kämpft gegen den Genderstern, sorgt dafür, dass ein Gender-Tag abgesagt wird und hetzt gegen eine Dragqueen-Lesestunde für Kinder. Was macht das mit Ihnen?

A. R.: Momentan findet ein antifeministisches Agenda-Setting statt. Im Vordergrund geht es um Gendersterne und Dragqueens, aber eigentlich geht es darum, grundlegende feministische Errungenschaften rückgängig zu machen.

Z. K.: Und die Medien finden das super, heizen die Debatte weiter an. 

A. R.: Sie übernehmen das rechte Wording und ihre Themensetzung. Im Hintergrund passieren dann Dinge, wie dass Opferberatungsstellen weniger Gelder bekommen oder am Recht auf Abtreibung gerüttelt wird.

Macht Ihnen das Angst?

A. R.: Nein, es macht vielleicht weh. Aber zusammen mit vielen anderen arbeiten wir an Lösungen und das gibt Hoffnung. Brauche ich Trost, dann sage ich mir auch: Diese Rückschläge gibt es in der Geschichte oft. Das ist ein patriarchales Aufbäumen, von Menschen, die merken, dass die Veränderungen unaufhaltbar sind. Das macht den Backlash nicht angenehmer, aber diese hoffnungsvolle historische Einordnung tröstet mich darüber hinweg, dass dieser Teil des Fortschritts immer am schmerzlichsten ist. 

Z. K.: Der tödlich getroffene Löwe des Patriarchats.

Kommen wir zum feministischen Streik. Wie haben Sie den 14. Juni verbracht?

Z. K.: Ich war in Zürich unterwegs und hoffte, der Streik würde so gross. Denn es gibt nach wie vor viele Frauen, die nicht streiken können oder dafür grosse Risiken eingehen müssen. Diese können wir nur schützen, indem wir viele sind – und laut. 

A. R.: Ich habe zwei Reden gehalten. Danach wurde getanzt! Auch das ist ein wichtiger feministischer Akt. 

Zita Küng, für Sie ist es bereits der dritte Streik, den Sie erleben. Welche Erinnerungen haben Sie an 1991?

Z. K.: Das war riesig! Ich war damals in der Gewerkschaft Bau und Holz aktiv. Hier auf dem Kanzleiareal stand unsere Frauenstreikküche. Männer sollten die streikenden Frauen und ihre Kinder versorgen. Die Männer fragten mich: «Für wie viele sollen wir kochen?» Ich sagte: 3000. Sie hielten mich für wahnsinnig und kochten Risotto für 600 Frauen und schlussendlich kamen gegen 10 000. Die Männer waren echt gefordert, aber kapierten: Frauen haben gemeinsam eine unglaubliche Kraft. 

Anna Rosenwasser, Sie haben 2019 zum ersten Mal den Streik miterlebt. Haben Sie diese irrsinnige Kraft auch gespürt? 

A. R.: Ja. Ich kenne Menschen, die heute noch vom Streik mit strahlenden Augen sprechen. Dieser Tag hat vielen Menschen sehr viel gegeben. Es war vergleichbar mit einer Akkuladung der grossen feministischen Bewegung.

Z. K.: Das war auch 1991 so. Ich sagte danach, das war der schönste Tag in meinem Leben. Hoffentlich können wir genau dieses Gefühl wieder erzeugen: Es gibt Energie und macht Eindruck. 

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