Fortschritt oder fortschreitende Zerstörung?

In Deutschland blockieren Bäuerinnen und Bauern mit ihren Traktoren Autobahnen. In der Schweiz lehnt der Bauernverband die Biodiversitätsinitiative ab. Was unlogisch tönen mag, kommt nicht von ungefähr: Mögliche (Hinter-)Gründe liefert ein Buch mit dem Titel «Bauernsterben».

Bartholomäus Grill, Jahrgang 1954, ist «auf Bauernhöfen im bayerischen Gebirge und im Voralpenland am Ende einer Epoche aufgewachsen, in der die meisten Bauern noch in natürlichen Kreisläufen wirtschafteten», schreibt er in «Bauernsterben. Wie die globale Agrarindustrie unsere Lebensgrundlagen zerstört». Und weiter: «In den frühen 1960er Jahren habe ich die Initialzündung der sogenannten grünen Revolution erlebt, den Modernisierungsschub in der Landwirtschaft, der zu einem beispiellosen Bauernsterben führte.» Im Studium hat er sich mit Agrarsoziologie beschäftigt, in der Kampagne gegen das Waldsterben sei er zum Ökoaktivisten geworden. Als Journalist hat er sich «an den Torheiten der europäischen Agrarpolitik abgearbeitet», und gereist ist er ebenfalls viel, «als Korrespondent in Afrika beschrieb ich die Probleme von kleinen Bauern und Bäuerinnen, die den Kontinent ernähren, und wunderte mich immer wieder darüber, wie die Entwicklung des ländlichen Raumes von der Politik und auch von der Hilfsindustrie vernachlässigt wurde».

Butterberge und ein Milchmeer

Nein, früher war bei Weitem nicht alles besser, aber «die Vorfahren wirtschafteten nachhaltig, auch wenn damals niemand dieses Wort gebrauchte», der schonende Umgang mit den Ressourcen sei ein ungeschriebenes Gesetz gewesen. Dann begann die Zeit der «chemischen Hilfsmittel», und der Getreideboden auf dem Hof der Grills wurde allmählich zu klein für die «sprunghaft gewachsenen» Erntemengen. Es folgte der Siegeszug der Maispflanze. «Die Milchleistung der Kühe nahm signifikant zu. Wie überhaupt jede technologische Innovation die Produktion unseres Hofes steigerte und Arbeitszeit einsparte.» Bald brauchten die Bauern keine Hilfskräfte mehr.

«Die Agrarmarktordnug der EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, ein Vorläufer der EU/nic.) hatte vor allem eines bewirkt: eine irrsinnige Überproduktion. Brüssel und die Mitgliedsstaaten beschworen zwar den freien Markt, doch die Politik glich eher einer kommunistischen Kommandowirtschaft, die das Prinzip von Angebot und Nachfrage vollkommen aushebelte.» Die Folge waren Getreide-, Zucker-, Butterberge, und «der Milchsee schwoll zu einem Meer an». Dann kam die Milchquote: Jedem Betrieb wurde ein jährliches Kontingent bewilligt. Wer die festgelegte Referenzmenge überschritt, hatte eine Strafabgabe zu leisten. Die Folge: Kleine Bauern mussten aufgeben – weniger Kühe und weniger Milch gab es trotzdem nicht, weil die grösseren Betriebe aufstallten.

«Subventionierte Unvernunft»

Damit war im Grunde bereits aufgegleist, was sich seither weltweit abspielt: Immer mehr kleine und mittlere Betriebe gehen ein, und die verbleibenden Höfe werden immer grösser. Bereits damals wurden auch «die Folgen der Erzeugerschlacht für Natur und Umwelt spürbar»: Schlechtere Grundwasserqualität, weniger Insekten, etc. «Wachse oder weiche. Der Irrsinn der europäischen Agrarpolitik» lautet folgerichtig das nächste Kapitel. Denn auch vom «Subventionskuchen» bekämen die Grossen logischerweise mehr ab als die Kleinen, es herrsche die «subventionierte Unvernunft».

Mit den Verflechtungen von Agrarlobby und Nahrungsmittelindustrie geht es weiter, es folgen der «Streit um Energiepflanzen aus der Landwirtschaft» und Exkurse in andere Länder. Das Kapitel «Vom Winde verweht» handelt davon, dass wir drauf und dran seien, «unsere neben Wasser, Luft und Sonnenlicht wichtigste Lebensgrundlage zu zerstören, die dünne Humusschicht von 15 bis 30 Zentimetern, die Mensch und Tier ernährt». Dürren und Wassermangel in Afrika, Landräuber, Spekulanten, das «Millardengeschäft mit fruchtbaren Böden und Agrargütern» und die «katastrophalen Folgen des weltweit wachsenden Fleischkonsums» beschäftigen den Autor ebenso wie Saatgut, Gentechnik und der «Kampf um biologische Ressourcen».

Was tun?

Leichte Kost ist das nicht: «An alternativen Ideen mangelt es nicht. Aber am Willen, sie zu verwirklichen.» Dem ist kaum zu widersprechen. Doch sollen wir künftig vergärte Bakterien essen, die in Form von vielseitig verwendbarem eiweisshaltigem Pulver aus dem Fermenter kommen? Der Bauernsohn ist skeptisch. Sind Biobauernhöfe die Lösung? Braucht es mehr solidarische Landwirtschaft oder Gemüse, das im Halbschatten unter Agri-Photovoltaikanlagen wächst? «Allein, für die Lösung der landwirtschaftlichen Kardinalprobleme erweisen sich manche gut gemeinten Ideen als unbrauchbar, und dies hat einen einfachen Grund: Sie wurden von idealistischen urbanen Eliten erdacht, die eine realitätsferne Vorstellung vom Bauerntum haben.» 

Kommt mir bekannt vor: Die Bauern machten schon viel, man solle ihnen nicht noch mehr vorschreiben… so tönte es doch hierzulande vom Bauernverband, als er gegen die Pestizid- und die Trinkwasserinitiative ins Feld zog (und bekanntlich siegte). «Bei einer Schlepperdemo vor dem Brandenburger Tor sah ich ein Banner an einem Frontlader hängen: ‹Sie säen nicht und sie ernten nicht, aber sie wissen alles besser.› Die Landwirte fühlen sich gegängelt und missverstanden, die wenigen, die überhaupt bereit waren, mit mir, dem vermeintlichen Presseheini aus der Grossstadt, zu reden, beteten das Credo der Agrarindustrie nach: Weiter so. Erträge steigern. Wachsen oder weichen. Wir sind schliesslich die Ernährer und Grundversorger der Nation.», fährt der Autor fort und stellt fest, die Öffentlichkeit nehme den Landwirt:innen dieses Selbstbild nicht mehr ab, «mehr und mehr Verbraucher sehen sie als ignorante Giftspritzer, Umweltzerstörer und Tierquäler». Wie wäre es damit: Einander erst mal zuhören, auch wenn der:die andere aus der vermeintlich ‹falschen› Ecke kommt? Doch, und das zeigt der Autor eben auch auf: In einem System, das auf Grösse und Masse setzt, sind kleine und mittlere Betriebe per Definition gefährdet – und man kann es den Bäuerinnen und Bauern selbst dann nicht verübeln oder gar verbieten, sich gefährdet zu fühlen, wenn die Gefahr überschaubar ist, sprich, wenn zum Beispiel aktuell ‹nur› die Subventionen für Traktor-Diesel heruntergefahren werden sollen.

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