Félicien

Kürzlich war ich im falschen Raum für eine Sitzung. Für eine Online-Sitzung. Ich wusste nicht, dass das technisch geht, aber ich hatte mich, wie sich später herausstellen sollte, um einen einzigen Buchstaben vertippt und anstatt einer Fehlermeldung fand ich mich mit mir selber wieder. 

In einem virtuellen Raum, mir gegenüber im Bildschirm mein Gesicht, meine Schultern, deutlich auch meine nun wirklich viel zu langen Haare. Erst übte ich ein wenig die typischen Sitzungsposen,  also so zuhörend, gescheit blickend, nachdenklich-fragend, witzig, überrascht. Ich fand, dass es mir gut gelang. Dann arbeitete ich an der Beleuchtung und schaffte es, mich etwas weicher erscheinen zu lassen.

 

Ich war zu früh für diese Sitzung und dachte mir deshalb nichts dabei, die anderen würden wohl noch kommen. Ich wollte meinen Platz aber nicht verlassen, falls, gleich, bald, sich eben auch die anderen zuschalten würden, und so sass ich da, wartete. Zum Zeitvertrieb fing ich damit an, die Zeitungen zu lesen, die da lagen. «Ein riesiger Rucksack voller Weisswein», hatte das ‹Tagblatt› getitelt, und als ich merkte, dass da «Weltwissen» stand, nicht «Weisswein», und ich mich sorgenvoll mit meinem coronabedingten Alkoholkonsum auseinandersetzen wollte, fiel mein Blick auf die Schlagzeile einer älteren Ausgabe der NZZ.

 

«Félicien» las ich und sofort fiel mir ein, wie ich diesen Vornamen auch einmal für meinen Sohn in Betracht gezogen hatte. Er tönt fröhlich, glücklich, leicht. Das hätte mir noch gefallen. Ein wenig war ich froh, heisst er nun anders, denn ich zog die NZZ näher zu mir und las den ganzen Namen. Um Félicien Kabuga ging es, einen der Verantwortlichen für den Genozid in Ruanda. Seit 25 Jahren war er auf der Flucht, nun wurde er, 84-jährig, in einem Vorort von Paris gefasst. Er hatte sein Geld, seine Beziehungen und seinen Radiosender dazu genutzt, um sich massgeblich an der Massakrierung von fast einer Million Tutsi und moderaten Hutu zu beteiligen.

 

Auf meinem Handy wollte ich Félicien Kabuga eingeben, nach dem ersten F kam aber gleich Facebook und der Post eines Politikers, der aufzählte, wieviele Grundrechte durch den Bundesrat ausser Kraft gesetzt worden sind während der Coronakrise. Zu viele, fand er. Die Empörung darüber war gross, Diktatur stand da mit Ausrufezeichen, und noch mehr Leute teilten die Empörung. Viele davon kannte ich persönlich. Jetzt geriet mir das, vielleicht weil schon zu lange wartend mit mir allein, gut ausgeleuchtet, in diesem einsamen Raum, jetzt geriet mir das irgendwie zusammen. Der Kriegsverbrecher Félicien Kabuga und die Aufregung um einen im Notrecht agierenden Bundesrat. Ich musste, ausgehend vom Völkermord in Ruanda, an die Diktaturen denken, an Menschen, die heute, jetzt, in diesen leben müssen, die nie erfahren werden, was Grundrechte eigentlich sind, was Freiheit, was ein Leben ohne Willkür.

 

Demgegenüber sah ich uns, aufgebracht, zeternd wegen diesen Grundrechten, die man uns weggenommen hat, zeitlich begrenzt allerdings und gestützt auf Gesetz und Bundesverfassung, sah uns also unserer Grundrechte beraubt in unseren Wohnungen sitzen oder auf den Sofas in den grosszügigen, hellen Wohnzimmern liegen, mit Netflix im Homeoffice, den Grilladen auf den Balkonen, wie wir über diese Diktatur wüten, die uns angeblich gerade angetan wird.  

Fürchten wir das Richtige, wenn wir jetzt um unsere Demokratie bangen? 

Das Telefon klingelte, wo ich denn sei, man warte auf mich. Ich fand den richtigen Raum. 

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