Es ist keine Nuance, wenn man Europarecht ablehnt

Das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU bewegt – auch die SP. In einer Diskussionsreihe soll das Thema von verschiedenen Seiten und verschiedenen Stimmen beleuchtet werden. In diesem Beitrag repliziert SP-Nationalrat Eric Nussbaumer auf den ersten Beitrag von Jacqueline Badran im P.S. vom 11. Juni.

 

Eric Nussbaumer

Es gebe in der SP keine Spaltung zwischen EU-Gegnern und EU-Freunden, schreibt Jacqueline Badran in ihrem Beitrag. Schliesslich seien wir fast alle gleicher Meinung und «oftmals bestehen die Differenzen nur aus Nuancen und anderen Gewichtungen». Das stimmt leider nicht und genau das hat uns in den letzten Monaten aufgerieben. Es ist keine Nuance, wenn man europarechtliche Bestimmungen und die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs selektiv ablehnt. 

 

Rosinenpicken

Am Beispiel des Freizügigkeitsabkommens zeigt sich das exemplarisch. Die Schweiz hat dieses Abkommen mit der EU verhandelt und unterzeichnet. Im Abkommen von 1999 haben wir festgehalten: «Soweit für die Anwendung dieses Abkommens Begriffe des Gemeinschaftsrechts herangezogen werden, wird hierfür die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (EuGH) vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung berücksichtigt.» Wir hatten uns bei der Vertragsunterzeichnung also bereiterklärt, die Entscheide des EuGH für das Freizügigkeitsabkommens zu akzeptieren. Heute ist alles anders. Der EuGH sei kein unabhängiges Gericht, hört man auch in der SP. Der Gerichtshof entscheide nicht sozial und generell falsch, daher könne man in einer dynamischen Weiterentwicklung des Freizügigkeitsrechts den Gerichtshof beim übernommenen Gemeinschaftsrecht nicht mehr akzeptieren. Sorry, aber das ist keine Nuance. Das ist Ablehnung des Europarechts, je nach Lust und Laune. So funktioniert die europäische Inte­gration aber nicht. Auch nicht für unser Land. Das ist auch nicht einfach eine andere Gewichtung, sondern klares Rosenpicken. So haben sich leider Teile der Sozialdemokratie in den letzten Monaten lautstark positioniert. Diese Positionierung ist fahrlässig, falsch und hilft nur den Rechtspopulisten in ganz Europa.

 

Brüssel ist die beste Globalisierungs-Zähmung

«Wie gestalten wir in der global intensiven Arbeitsteilung eine Wirtschaftsordnung, die ohne Ausbeutung von Menschen und Umwelt auskommt?», fragt Genossin Badran weiter. Das ist eine wichtige Frage. Natürlich helfen dabei die Appelle der UNO mit den Nachhaltigkeitszielen. Und natürlich wäre es wünschenswert, wenn die Welthandelsorganisation WTO auch in diesen Fragen mehr Regulierungskraft entfalten könnte. Beides genügt aber nicht und ist eine Stufe zu hoch. Die beste Antwort auf die ungezügelte Globalisierung sind regionale Wirtschaftsblöcke, die dank ihrer Grösse eine eigenständige Standardsetzung in ihren Regulierungen einbauen können. Das machen die EU-Staaten auf einzigartige Weise. Die Ökonomin Anu Bradford nennt dies den Brüssel-Effekt. Das sehr gute Buch mit dem gleichnamigen Titel «The Brussels Effect» sei da­rum hier zur Lektüre empfohlen. Es ist die EU mit ihren Mitgliedsstaaten, welche die weltweit besten Standards für die Umwelt, für den Daten- und Konsumentenschutz und auch für andere Politikfelder setzt. Wer die Globalisierung zähmen will, kann gar nicht anders als die Regulierungskraft der EU schätzen. Das heisst nicht, dass die EU in allen Feldern alles richtig macht. Dass die EU-Staaten noch keine verlässliche Antwort für die Flüchtlingsaufnahme gefunden haben, ist enttäuschend und bedrückend zugleich. Aber auch hier gilt: Wer denn sonst? Welche Weltmacht oder welcher Staatenbund macht’s denn heute besser? Wir können unseren Beitrag auch bei diesem globalen Problem nur im engen vertraglichen Verbund mit den anderen europäischen Staaten leisten. Entweder setzen die Europäischen Länder den Standard gemeinsam oder er wird nicht von Europa gesetzt.

 

Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen

«Faktisch unkündbare Konstrukte» wie das Institutionelle Abkommen könne man nicht unterschreiben, weil das sei eben keine Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen, vielmehr sei darin die Machtpolitik der EU erkennbar. Hä? Habe ich das richtig gelesen? Man könne also eine Verrechtlichung der Beziehungen, eine institutionelle Bindung nicht unterschreiben. Da stellt sich schon die Frage, wie wir denn meinen, dass das friedliche Europa konstruiert wurde. Natürlich mit institutionellen Bindungen. Man ist Mitglied der EU oder man ist Mitglied im EWR oder eben nicht. Institutionelle Bindungen, die man eingeht, oder die man verlässt, sind der Kern der europäischen Zusammengehörigkeit. Nur die Schweiz schert hier aus. Die ganze Europäische Union, der ganze europäische Wirtschaftsraum ist eine Verrechtlichung der Beziehungen zwischen 30 Staaten, das hat nichts mit Machtpolitik zu tun. Wir als Drittstaat sind nicht bereit, den ganzen europäischen Rechtsrahmen zu übernehmen, wollen aber sektoriell alles nutzen, was die anderen 30 Staaten in Europa miteinander aufgebaut, erstritten und vertieft haben. Es gibt keine guten Gründe, eine freundlich angebotene Assozierungsmöglichkeit als Schweiz abzulehnen, vom Verhandlungstisch aufzustehen und davonzulaufen. Das ist anti-europäische Überheblichkeit.

 

Sind wir wirklich eine europäische Partei?

Und nun sollen wir uns also auf den Weg machen, die «Systemfehler der EU» zu entdecken. Wir sollen auch herausfinden, was unsere «Schmerzgrenze» sei in der verbindlichen Beziehung mit anderen europäischen Staaten. Immerhin erkennt auch Jacqueline Badran, dass es ein institutionelles Gefüge, ein eigentliches Assoziierungsabkommen braucht. Vielleicht bekommen wir noch einmal eine Chance, vielleicht aber auch nicht. Bis dahin müssen wir uns in der SP einig werden, ob wir für eine vertiefende europäische Integration einstehen. Die soziale Schweiz entsteht, weil wir im Konkreten mitwirken, mitgestalten und mitstreiten. Das soziale Europa, die soziale EU entsteht, weil sich die sozialdemokratischen Parteien in den Mitgliedsstaaten dazu verpflichten, für das vereinte soziale Europa einzustehen. Wollen wir hier wirklich mehr mitwirken, weil uns die «Schmerzgrenze» anscheinend sagt, das ist nichts für uns? Sollen nur die anderen Länder schauen, dass Europa weiterhin ein friedlicher Kontinent bleibt  – wir aber schauen zu? Oder ganz einfach: Werden wir eine verbindliche (vertraglich im europäischen Rechtsrahmen gebunden!) europäische Partei sein oder wollen wir lieber eine kleine sozialdemokratische Besserwissertruppe aus der ‹perfekten› Schweiz werden?

 

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