«Es geht um Personen, die ihr Leben einfach leben möchten»

Ein Offener Brief, adressiert an die Chefredaktion des ‹Tages-Anzeigers›, verlangt: Keine Transfeindlichkeit für Klicks. Unterzeichnet haben ihn 27 Organisationen, darunter die Juso, HAZ-Queer Zürich, das Transgender Network Switzerland oder die AL. Sofia Rohrer, Co-Präsidentin der Juso Stadt Zürich und Liam Bohner vom lokalen Queer-Verein HAZ Zürich kontextualisieren im Gespräch mit Sergio Scagliola.

Am Samstag bringt die Besorgnis über den aktuellen medialen Diskurs zum Thema trans Personen eine breite Gruppe von Organisationen auf die Strasse. Der mediale Diskurs habe sich weg von den Lebensrealitäten von trans Personen und hin zu Polemisierung verschoben: Pubertätsblocker werden kritisiert, die Einforderung von Diskriminierungsschutz wird als Agenda diffamiert, Detransitioning, also die Umkehr geschlechtsangleichender Schritte, realitätsfern aufgeblasen. Wo liegt das Kernproblem in der Konstruktion dieses Narrativs?

Liam Bohner: Meiner Meinung nach wird viel zu oft über trans Personen und nicht mit ihnen gesprochen. So geht die Menschlichkeit dieser Personen vergessen. Sie existieren aber, benötigen Unterstützung und können mit dieser Unterstützung auch ein sehr erfüllendes Leben führen. Eine trans Person ist nicht nur eine trans Person: Sie hat neben ihrer Geschlechtsidentität auch andere Sorgen, wie alle von uns auch. Aber sie wird oft auf die eigene Identität reduziert. Wenn in einem gesellschaftlichen Diskurs einer Gruppe von Menschen ihre Menschlichkeit abgesprochen wird, läuft etwas Grundsätzliches falsch. Und medial heisst es immer, man könne nicht alles wissen. Dafür gäbe es Fachstellen, wo Informationen bereitstehen, Personen mit Expertise, die tagtäglich mit trans Personen zu tun haben, die man intervie­wen könnte. Diese werden aber fast nie konsultiert, kritische Stimmen stattdessen umso mehr. Faire Berichterstattung wäre nicht so schwierig – die Ressourcen sind schliesslich vorhanden. 

Sofia Rohrer: Das ist auch der Grund, weshalb wir eine Demonstration organisieren. Es geht uns darum, dass auch unsere Stimme gehört wird. Zum Beispiel in der Tamedia-Landschaft, wo jüngst viele negativ gefärbte Inhalte zu Transidentitäten publiziert wurden, kommen keine trans Personen zur Sprache. Dabei wäre es besonders wichtig, dass Betroffene mitreden können. Und wenn uns diese Plattform nicht gegeben wird, dann müssen wir uns diese Plattform selbst verschaffen.

Wie erleben Sie die aktuelle mediale Berichterstattung um Transidentität?

L.B.: Zurzeit sicherlich mit viel Ernüchterung – weil vieles oft nicht auf fundierte Quellen gestützt wird, sondern persönliche Meinung ist. 

S.R.: Sehr oft geht es um Begriffe wie ‹woke›, die gar nichts mit trans Personen per se zu tun haben. Ich habe das Gefühl, dass das dazu führt, unfundierte Inhalte zu publizieren, weil man sich nicht mit der Wissenschaft hinter einer Thematik oder deren medizinischer Faktenlage auseinandersetzt.

L.B.: Transidentität kann als Waffe instrumentalisiert werden, was insbesondere rechte Parteien nutzen. Wenn Medien merken, dass Stichwörter wie «Woke-Wahn» eine grosse Reichweite geniessen, führt das vielleicht auch dazu, dass die Medienhäuser ein grösseres Interesse daran haben, Artikel dazu zu schreiben.

Was wäre ein Beispiel für dieses Narrativ?

S.R.: Ein klassisches Beispiel ist jenes um vorschnelle Entscheidungen und um Druck. Sei das bei trans Kindern, wo es um Pubertätsblocker oder bei Erwachsenen, wo es um Detransitioning geht. Die Transition geschehe viel zu schnell und werde oft bereut. Das entspricht aber nicht der Realität. Tatsächlich steht man jahrelang auf Wartelisten, die Krankenkassen verweigern oft Kostengutsprachen und Detransition betrifft eine äusserst kleine Gruppe. 

Stattdessen werden Dinge ausgeklammert und unterstellt…

L.B.: Genau. Wenn man umgekehrt für die Rechte von trans Personen kämpft, dann wird das so gedreht und instrumentalisiert, dass dies eine Bedrohung und Indoktrinierung für unsere Kinder sei. Ausgeklammert werden die positiven Aspekte von ‹Gender Affirming Care*› und die Steigerung der Lebensqualität für trans Personen, die Unterstützung erhalten. Und auch, dass diese Steigerung der Lebensqualität statistisch und wissenschaftlich belegt ist, wenn trans Menschen angemessene medizinische Versorgung erhalten. 

Gerade wenn es um Hetze geht – welche Rolle spielt die Schweizer Medienlandschaft? 

L.B.: Ich habe das Gefühl, dass die Hetze erst neuerdings in die breite Öffentlichkeit getragen wurde. Es handelt sich hier um einen Bevölkerungsteil, der historisch schon lange diskriminiert und zum Sündenbock gemacht wird. Dasselbe feindliche Narrativ zeigt sich längst bei verschiedensten Bewegungen: ob bei Frauenrechten oder der Gay-Rights-Bewegung wird oft exakt derselbe Jargon verwendet, um ähnliche politische Parolen zu fassen. Das Erschreckende ist nicht, dass das passiert, sondern dass es reale Folgen für trans Personen hat. Es geht um Personen, die ihr Leben einfach leben möchten, am liebsten in Frieden. 

Wieso findet das immer wieder Anklang?

S.R.: Vielleicht, weil es Empörung auslöst. Wenn man ein Thema bedient, über das wenig Wissen vorhanden ist, ist es einfach, eine Idee in den Köpfen zu festigen. Es ist immer noch so, dass die Anzahl von trans Personen stark überschätzt wird – je nach Studie geht man von 0,5 bis 2 Prozent der Bevölkerung aus. Dementsprechend kennen die meisten Leute keine trans Personen und die Idee, dass trans Menschen eine Agenda verfolgen, ist so einfacher zu bedienen. 

Demgegenüber wird zum Beispiel in einem Artikel einer Tamedia-Publikation gesagt, das Trans-Thema sei aus dem Nichts aufgetaucht.

L.B.: Der Anstoss zur Diskussion kommt natürlich aus der LGBTQ+-Gemeinschaft, die auf gesellschaftlicher und politischer Ebene Rechte eingefordert hat. Infolge dessen wurde auch klar, dass diese Rechte nicht für alle gleich wirksam sind. Als Beispiel die «Ehe für alle», wo im Anschluss an die Abstimmung grosse Euphorie geherrscht hat. Aber Gleichstellung ist damit nicht gegeben. Es gibt noch immer sehr viele Leute innerhalb der queeren Community, die weiter diskriminiert werden.

Beim SRF wurde derweil in einem Beitrag die «vorschnelle» Abgabe von Pubertätsblockern kritisiert. Das läuft dem wissenschaftlichen Diskurs entgegen, wo eine frühe Auseinandersetzung mit Geschlechteridentität gesundheitsfördernd gesehen wird. Welche Folgen hat diese ungleiche Reflexion?

L.B.: Es gibt zwei Probleme: Einerseits ist die Berichterstattung unreflektiert und so glauben Menschen diese Meinungen, weil sie sich so nicht mit der wissenschaftlichen Reflexion auseinandersetzen können. Andererseits hat es politische Folgen, weil demokratisch gegen das Vorantreiben von Inklusion und Menschenrechte von trans Personen entschieden werden kann. Wie die Thematik also in der Medienlandschaft ausgehandelt wird, hat reale Auswirkungen. 

S.R.: Und um konkret auf das Beispiel der Pubertätsblocker einzugehen: Heute ist der Zugang gewährleistet – weil die Medizin anerkennt, dass Pubertätsblocker potenziell lebensrettende Medikamente sind, die dafür sorgen, dass Transmenschen keine traumatische ‹falsche› Pubertät durchgehen müssen. Wenn das politisiert wird, reden wir nicht mehr über Fakten: Höhere Anforderungen an den Zugang zu Pubertätsblockern erschweren den Zugang zu medizinischen Leistungen. 

Eine weitere Kritik ist die, dass medial oft Studien herbeigezogen würden, die in der Wissenschaft als strittig, veraltet oder methodisch unzulänglich gewertet werden.

S.R.: Ja, und weiterverbreitet über Soziale Medien ebenso. Dass die Methodik wissenschaftlich horrend ist, ist nur ein Aspekt. Wenn es zum Beispiel über Geschlechterdysphorie** oder um soziale Ansteckung geht, gibt es eine Studie, die oft zitiert wird, aber gar keine trans Personen befragt hat, sondern lediglich ihre Eltern – spezifisch Eltern, die auf einem Anti-Trans-Forum aktiv waren. Darauf wurden viele Artikel aufgebaut und die Ergebnisse rege reproduziert, sodass die Studie heute noch herumgeistert.

Soziale Ansteckung meint hier das Vorurteil, dass queere Personen andere anstecken würden – das kennt man doch aus der Vergangenheit.

L.B.: Ja, das wird immer wieder reproduziert. Früher war es der schwule Bruder, der ja keinen Kontakt zu allen Kindern in der Familie haben durfte, aus Angst vor Missbrauch, oder weil das Kind dann ‹auch schwul wird›. Wenn diesem Narrativ nicht entgegengetreten wird, dann isoliert das die betroffene Gruppe und macht sie mundtot. Zudem: durch Hetze wächst die Angst, sich einerseits zu outen und andererseits, sich mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen. Das Narrativ der sozialen Ansteckung geht in dieselbe Richtung, verfehlt dabei aber Grundlegendes: Wenn eine Gesellschaft sich der Gleichberechtigung nähert, fühlen sich Menschen auch wohler und sicherer, innerhalb einer zuvor unterdrückten Gemeinschaft zu existieren. 

Wenn eine marginalisierte Gemeinschaft also isoliert und unterdrückt wird, kann man den Bogen zur Juso zurückschlagen. Stichwort: Klassismus?

S.R.: Ich glaube, Klassismus ist tief mit Transfeindlichkeit verbunden. Trans Personen sind in unserer Gesellschaft systematisch benachteiligt. Um weniger Diskriminierung im Alltag ausgesetzt zu sein, muss man medizinische Massnahmen ergreifen, die natürlich auch mit Geld verbunden sind. Eine Transition kostet viel Geld. Das ist Geld, das nicht alle haben. In diesem Sinne ist es ganz klar eine Klassenfrage. Und was noch dazu kommt: Trans zu sein bedeutet häufig sozialen Abstieg. Es ist schwieriger, einen Job zu bekommen, jene, die man bekommt, sind schlechter bezahlt etc. Und zuletzt hat systematische Marginalisierung auch einen Einfluss auf die Gesundheit und damit auf die Leistungsfähigkeit.

Wie zeigt sich die Politisierung von trans Personen hierzulande? In den USA wurden z.B. 2018 noch rund 20 Anti-Trans-Gesetzesentwürfe beschlossen – 2023 waren es über 500.

L.B. Man kann politisch beobachten, dass auch Politiker:innen eine Politik und Parolen aus fragwürdigen Quellen reproduzieren. Wenn es um spezifische Legislation geht, die momentan passiert, ist es ambivalent. Ein positives Beispiel wäre Basel-Stadt und deren Diskriminierungsschutz.  Ein neues Negativbeispiel wäre Bern, wo Pubertätsblocker erst ab 18 zugänglich sein sollen – was zwar noch nicht beschlossen ist, aber diskutiert wird. 

S.R.: In Zürich wäre ein Beispiel die Anti-Genderstern-Initiative, die zwar nicht die Gesundheitsversorgung angreift, aber dafür über die sprachliche Ebene die Idee, dass trans Personen existieren können. Auch in den USA hat man anfangs gesagt, dass man nur die Kinder schützen will – und jetzt wird nicht nur die Gesundheitsversorgung von Kindern angegriffen, sondern auch jene von Erwachsenen. Deshalb ist das auch ein gefährlicher Trend und ich hoffe, wir können ihn stoppen, bevor es 500 Anti-Trans-Gesetze gibt.

Und auf nationaler Ebene?

S.R.: Die Schweiz hat generell einen schlechten Schutz für trans Personen, aber es ist zweigeteilt. Sowohl der Staat als auch Private, die Aufgaben für den Staat übernehmen, dürfen Transmenschen nicht diskriminieren. Aber Diskriminierung gestützt auf dieses Kriterium ist generell nicht explizit verboten. 2018 hätte man die Möglichkeit gehabt, die Kategorie Geschlechtsidentität in die Antirassismus-Strafnorm aufzunehmen, so wie es mit der Sexualität gemacht wurde. Das hat es aber nicht in den endgültigen Gesetzesentwurf geschafft. Deshalb ist die Situation heute noch gleich, wie sie zuvor war. 

Die Demonstration ist ein Teil der Protestaktion – der zweite Teil ist der Offene Brief an Politik und Medien. Er leitet auch Forderungen ab. Welche?

L.B.: In erster Linie besseren Diskriminierungsschutz für trans Personen – eine politische Forderung, dessen Umsetzung bereits verpasst wurde. Weiter auch, dass der medizinische Zugang nicht verschlechtert werden darf. Und natürlich Aufklärung. Auch bei medizinischem Personal gibt es noch Bedarf zur Weiterbildung – gerade bei jenem Personal, das nicht bei den Fachstellen arbeitet, sondern eben in den ersten Etappen der medizinischen Versorgung, wo dieser ganze Unterstützungsprozess angestossen wird und heute vielerorts wenig Wissen vorhanden ist. 

S.R.: Für die Medien hingegen geht es primär darum, Meinungen als solche zu deklarieren. Es geht nicht, Meinung als Fakt hinzustellen. Und damit verbunden: Bildungskampagnen. Denn mit Bildung könnte gegen die Hetze und auch die Lügengeschichten vorgebeugt werden. Nur so kann Hetze als solche enttarnt werden. 

 

* : medizinische Transition
** : Inkongruenz zwischen dem bei Geburt
zugewiesenen und dem eigentlichen
Geschlecht der Person.

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