Die AL und der Krieg in Gaza

Eine zähe Podiumsdiskussion am Montag zeigte die emotionale Tragweite des israelisch-palästinensischen Konflikts – und, dass sich konkrete Lösungen in der Friedensförderung von hier aus nicht einfach aus dem Hut zaubern lassen. 

Während ennet der Sihl stumpf um einen nicht brennenden Schneemann geritten wurde, lud die AL am Montagabend zu sinnstiftenderer Aktivität: Zur Podiumsdiskussion unter dem Titel «Gaza und wir – wie weiter?». Vor Ort: Shelley Berlowitz von der Jüdischen Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina (Jvjp, siehe Interview mit Shelley Berlowitz im P.S. vom 1. März 2024), AL-Mitglied und Kinderrechtsaktivist Ephraim Seidenberg, Filmemacher Samir, der mehrere seiner Werke in Israel und Palästina produziert hat, und so viele Interessierte, dass die Stuhlreserve im Gemeinschaftsraum an der Hellmutstrasse nicht ausreicht und Tische zu Sitzgelegenheiten umfunktioniert werden müssen. Nicht vor Ort: Die syrische Palästinenserin Vera-Ayse Kilper, die ihren Platz auf dem Podium krankheitsbedingt nicht einnehmen kann. Bis anhin sei das Behandeln internationaler Fragen ein Territorium gewesen, auf das sich die AL nicht begeben hatte, eröffnet Moderator und Alt-Gemeindepräsident Mischa Schiwow die Diskussion. Das Massaker der Hamas vom 7. Oktober sowie Israels Retaliation habe jedoch so viel Entsetzen ausgelöst, dass parteiintern der Konsens entstand, nicht mehr nur lokalpolitische (Eigen-)brötchen zu backen, sondern auch zu geopolitischen Konflikten Stellung zu beziehen. Die «junge Generation» der AL habe das besonders gefordert, sagt Gemeinderat David Garcia Nuñez im Nachgang. Und ausserdem sei es ein nötiger Schritt, wenn die AL irgendwann auf einen Platz im Nationalrat hoffen wolle.

Streitthema Antisemitismus

Ziel des Podiums gemäss Schiwow: Die inner- und ausserparteiliche Diskussion eröffnen, Konsense und rote Linien finden und die Frage beantworten, was man von Zürich aus überhaupt tun könne, um den Frieden im Nahen Osten zu fördern. So richtig wird das Versprechen im Laufe der Diskussion nicht eingelöst. Unter anderem, weil es nach der Vorstellungsrunde keine zehn Minuten geht, bis die ersten Reibungspunkte in der Diskussion hervortreten (es geht um die Frage, ob die Menschen in Israel am 7. Oktober umgebracht, gefoltert und vergewaltigt wurden, weil sie Jüd:innen waren oder weil sie Israelis waren) und keine zehn weiteren Minuten, bis das Gespräch vor Reibung verkantet. Der Nebenschauplatz «Tweets von Samir zum Nahostkonflikt» (ob diese einen antisemitischen Holocaustvergleich darstellten, die 20-Minuten-Berichterstattung tendenziös und hetzerisch war, die Entschuldigung Samirs unaufrichtig etc.) wird in der Folge zum Fokus der Diskussion, mit den Schauplatzhirschen Ephraim und Samir in den Hauptrollen. Nach einer Wortmeldung aus dem Publikum, dass die Zwistigkeit nun zu unterbinden sei, und einer letzten, ruhigeren Aussprache findet die Diskussion wieder zurück auf Kurs.

Einigermassen zumindest: Grösstenteils geht es im Podium eher um Antisemitismus als um den Krieg in Gaza und das Handeln dagegen: Ephraim Seidenberg erzählt vom «Wiederkauen» familiärer Traumata, das Holocaust-Inversionen (also die Aussage, dass «die Juden» in Gaza dasselbe täten wie die Nazis im zweiten Weltkrieg) und die Diskussion darüber bei vielen jüdischen Menschen auslösten, Shelley Berlowitz ergänzt: «Man kann den Holocaust und andere ethnische Säuberungen schon vergleichen – nur kommt man dann zum Schluss, dass es in der Geschichte der Menschheit keinen anderen systematischen, industriellen Massenmord wie den Holocaust gab.» Ausserdem, sagt Seidenberg, mangle es in der Linken (und auch bei der AL) am Verständnis und Wissen, was Antisemitismus eigentlich bedeute und beinhalte. Und er fragt: «Wie will man von Zürich aus für Frieden in Nahost kämpfen, wenn man schon beim Thema Antisemitismus reflexartig mit so viel Ablehnung reagiert?» Auch hier widerspricht Samir, sagt, erfahrungsgemäss habe das Thema Antisemitismus bei Solidaritätsbekundungen und Demos zum Thema Palästina «höchste Priorität». Schade sei dafür, dass offenbar solche Solidaritätsbekundungen bei linken Parteien keine hohe Priorität mehr genössen: Er sehe an den Solidemos jeweils tausende Menschen arabischer Herkunft, aber keine Flaggen von AL oder SP. Seine Frage: «Wo ist die internationale Solidarität hin?» 

In vielen Punkten ist Ephraim Seidenberg mit seiner Position in der Unterzahl – auf dem Podium, aber auch im Publikum, wie am ablehnenden Gemurmel erkenntlich wird, das teilweise durch den Raum geht, wenn er spricht. Dass er im Verlauf der Diskussion zweimal mit falschem Namen angesprochen wird – sicher keine Absicht, aber auch keine Darbietung überbordenden Respekts – verstärkt den Eindruck seiner Underdog-Rolle noch. Für das Verhalten gibts für den verantwortlichen Teil des Publikums später von AL-Gemeinderätin Sophie Blaser eine Schelte per Wortmeldung. Immerhin sagt Ephraim (nicht etwa Benjamin oder Michael) Seidenberg nach der Diskussion, er habe sich weniger in der Unterzahl gefühlt als erwartet. 

Friedlich vorwärts

Einen versöhnlichen Konsens erreichen Gäste und Publikum gegen Ende der Diskussion mit dem Votum von Shelley Berlowitz, es sei für das Erreichen von Frieden in Nahost essenziell, dass sich die Menschen nicht mehr über ihre Herkunft, sondern ihre Werte definieren – jedoch in bewusster Achtung der jeweiligen Geschichten und Traumata der Gegenüber. Das Publikum quittiert die Aussage mit Applaus (und der Hund einer Zuhörerin mit zustimmendem Bellen). Samir fordert in seinem Schlussvotum, die Linke müsse dafür geeint Druck ausüben und internationale Solidarität aktiv leben. Dinglicher wird es aber nicht mehr. 

Nach dem Podium bringt eine Besucherin bei David Garcia Nuñez den Wunsch an, man solle sich endlich mit konkreten Projekten zur Friedensförderung auseinandersetzen und über diese berichten, wie zum Beispiel das Parents Circle Family Forum: Eine gemeinschaftliche Initiative, die israelische und palästinensische Familien, die durch den Konflikt Angehörige verloren haben, zusammenführt. Die Organisation zielt darauf ab, durch Austausch persönlicher Erfahrungen und Geschichten den Dialog zu fördern und ein gegenseitiges Verständnis zu entwickeln, um so den Kreislauf von Blutvergiessen zu durchbrechen. Ein QR-Code für Interessierte an der Wand daneben zeigt: Die AL ist gewillt, Inputs wie diesen aufzunehmen und sich in einer neugegründeten Arbeitsgruppe damit zu befassen. Man darf also davon ausgehen, dass das gesetzte Ziel der Podiumsdiskussion, nämlich konkrete Lösungen aufzuzeigen, in der Nachbearbeitung erreicht wird.

 

Anm. d. Red.: In einer früheren Version dieses Artikels wurde eine Aussage von Ephraim Seidenberg falsch wiedergegeben. Das Wort «besonders» im Satz «Ausserdem, sagt Seidenberg, mangle es besonders in der Linken (und auch bei der AL) am Verständnis und Wissen, was Antisemitismus eigentlich bedeute und beinhalte» impliziert, dass ein solcher Mangel in anderen politischen Lagern geringer sei. Diese Aussage stimmt nicht mit den Ansichten von Ephraim Seidenberg überein und ist angepasst worden. Die von ihm zum Ausdruck gebrachte Ansicht ist, dass dieses Bewusstsein in der Linken fehlt und sich das nicht an anderen politischen Lagern, sondern am vorhandenen Bedarf und an den eigenen Ansprüchen misst. 

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