Entrückt

Bei Carmen Jaquier endet die Selbstbestimmung einer Frau nicht bei der Hoheit über ihren Bauch.

Wenige Filmminuten nach der innigen Intimität mit Martin (Roland Bonjour) gegen Ende ihrer Schwangerschaft, blickt Diane (Dorothée de Koon) konsterniert über das Babybettchen ihres eben geborenen Kindes in eine vollkommene Leere. Dessen Weinen weckt hinter dem Vorhang ein weiteres Neugeborenes, das von der Mutter sofort aufgehoben und mit sanft wogender Stimme beruhigt wird. Dianes Reflex ist die Flucht. In die Nacht, aus der Stadt hinaus, nur weg. Nach «Foudre», worin Innocence (Léa Gigon) via eine rauschhafte Sexualität dem allgemeinen Druck einer Gottesfurcht zu entgehen suchte, um die Enge der allgemeinen Erwartung irgendwie auszuhalten, schreibt Carmen Jaquier für «Le Paradis de Diane» erneut ein starkes Drehbuch über eine junge Frau, die mit ihrer Situation über Kreuz steht. Gegen die allgemeine also auch verinnerlichte Erwartung, in ihr würden qua Niederkunft wie von Zauberhand automatisch Muttergefühle erwachsen, treibt sie ihr Reflex in die Flucht. Diane landet im winterlichen Benidorm, wo sich die Einsamkeit und das Verlorensein im krampfhaften Bemühen um eine Feierlaune von Rentner:innen widerspiegelt. Eine von ihnen, Rose (Aurore Clément) liegt mit aufgeschlagenem Knie am Strassenrand und will sich partout von niemandem der sie umringenden Personen helfen lassen. Es hilft, dass beide Französisch sprechen. So kann sich Diane ihr annehmen, respektive sich ihrerseits in die Sicherheit von Roses Obhut begeben. Umständehalber und über Umwege entsteht ein Tandem, keine Instantfreundschaft, zweier Frauen in unter jeder Hinsicht einander entgegengesetzten Situationen und Sehnsüchten. Sie reden nicht viel, haken nicht nach, wenn sie Beobachtungen zu Ahnungen verleiten. Aber sind sich irgendwie gegenseitig doch so etwas wie Halt. Diane hat Telefon und Ausweise entsorgt und via einen anonymen Fernsprecher richtet sie Martin aus, es ginge ihr gut, sie habe einfach nicht anders gekonnt und sie käme nicht wieder. In der Zeichnung der Frauenfiguren, der sie umgebenden Festhütte im Winterschlaf und der weiteren Entwicklung bleibt Carmen Jaquier einfühlsam, aber distanziert, trifft – in der Co-Regie mit Jan Gassmann – beinahe schon die inhaltliche Entrücktheit, die letztlich sämtliche Figuren mit sich tragen. Sie psychologisiert nicht, moralisiert nicht und stellt nach einem heimlichen, kurzen Ausflug zur Selbstvergewisserung über das frühkindliche Wohlergehen auch keine Diane mit Vorhaltungen entgegnende Figur zur Seite. Sie lässt ihr Publikum weitestgehend allein mit all den sich potenziell auftürmenden Fragen und schärft damit den Fokus erst recht.

«Les Paradis de Diane» spielt im Kino RiffRaff.

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