Sinnlich
Mit der Manipulation von simplen Materien erschafft die Compagnie O. mit «Living Matter(s)» einen Bilderreigen, der das Irdische mit dem Künstlichen zur Kunst verbindet.
Da stehen die drei Tänzerinnen auf einem erhöhten Haufen und erinnern zuerst an «Die drei Grazien» von Peter Paul Rubens, um sich behänd in Francisco de Goyas «Flug der Hexen» zu verwandeln und diese eine Szene schliesslich als physische Stellvertretung Henri Matisses «La danse» als einen harmonisch in sich stimmigen Kreislauf zu beschliessen. Schon der Auftakt von Marie Alexis’ Choreographie zielt auf die Wahrnehmung durch mehrere Sinne zugleich: Alice d’Angelo, Naomi Kamihigashi und Ambra Peyer stecken in schwarzen Latexanzügen und rutschen mit Tanzteppich belegte Senken hinab, was Gummi auf Gummi Reibungstöne generiert, zielstrebig ungelenk angestrengt und augenscheinlich schweisstreibend wirkt, was bereits Lust und Pein als streckenweise sehr nahe Verwandte thematisiert. Wenn sie unter die bühnenfüllende Wulst aus Kautschuk kriechen und sich gegen den Widerstand winden, ist eine hochgradig stilisierte, aber latente sexuelle Konnotation nicht mehr von der Hand zu weisen. Nach und nach erweitern sie die Materialien auf der Bühne um meterweise Bahnen durchsichtiger Plastik- und schwarzsilberner Alufolie, die sie unter erkennbarer physischer Kraftanstrengung über die Bühne wälzen und so einen Eindruck einer tektonischen Plattenverschiebung erwecken. Jedes Material erzeugt in sich ein verschiedenes Geräusch und fördert Assoziationen zutage, die mit zum Ausdruck dieser Choreographie gehören: Das weisse Fischernetz als ganzkörperumhüllenden Hochzeitsschleier, die überlangen Aluschutzfolien als Wärmespender in grösster Not und eilends hervorgezogene Endlosbahnen, die sich vertikal im Raum biegen, als würden Vulkane Lava speien. Der Mensch darin wirkt stellenweise als handgreifliches bis sehr einschlägig übergriffiges Wesen, das in die angetroffene Ordnung eingreift, um andernorts wiederum als mickriges, von der Umgebung vielschichtig bedrohtes Wesen zu erscheinen. Dann wieder tanzen die Drei auf dem via die Vernunft als Abfall und Überfluss erkennbaren Materialberg, wie das die Haute-volée während des Untergangs der Titanic ihre Gefahrenlage völlig ignorierend taten, was hinsichtlich der akuten Umweltthematik auch als generelles Sinnbild gelesen werden könnte. Die Sinnlichkeit ergreift das Publikum auch unmittelbar. Die Plastiksitzkissen wärmen zusehends von unten, was ein (theoretisches) Unwohlsein durch die symbolisierte Bedrohung von über den Köpfen hängenden Netzen möglicherweise noch verstärkte, würde einen das Bühnengeschehen allein nicht schon voll in Beschlag nehmen. froh.
«Living Matter(s)», 15.9., Tanzhaus, Zürich.