Einblick in die humanitäre Lage in Bosnien

Seit Jahren gilt die Balkanroute in Bosnien als geschlossen. Die Bilder, die aktuell in den Medien kursieren, zeigen etwas anderes. 4000 bis 6000 Geflüchtete ziehen jährlich durch Bosnien. Besonders prekär sind die Umstände im Norden, nahe der kroatischen Grenze. Diese wird streng bewacht,und es kommt immer wieder zu illegalen Pushbacks. Am 23. Dezember brannte das Camp in Lipa nieder und die humanitäre Notlage wurde noch prekärer. Aus dem Umfeld einer Aktionsküche, dem sogenannten Kochkollektiv, fanden sich verschiedene Menschen zusammen. Das so gegründete Frach Kollektiv reiste nach Bosnien mit dem Ziel, Geflüchteten Unterstützung zu bieten. Im Gespräch mit Roxane Steiger zeichnen zwei dieser AktivistInnen* ein Bild ihrer Arbeit und vom Kampf gegen menschenunwürdige Lebensbedingungen.

 

Weshalb habt ihr euch dazu entschieden, nach Bosnien zu gehen? Wie ist es dazu gekommen, dass ein Teil des Kochkollektivs früher abgereist ist als geplant?

Im Jahr 2020 fanden aufgrund der Covid19-Krise kaum Demonstrationen, Klimacamps oder andere politische Anlässe statt, und das Kochkollektiv wurde, wie sehr viele andere Menschen in dieser Zeit, arbeitslos. So kam die Idee auf, über eine längere Zeit für Menschen auf der Flucht zu kochen. Im Oktober traf sich zum ersten Mal eine Gruppe und sprach darüber, wie das aussehen könnte. Wir kontaktierten die verschiedensten Projekte und Gruppen. Schliesslich reisten im November zwei von uns nach Bosnien, um sich ein Bild von der Lage dort zu verschaffen und Kontakte zu den Organisationen und Strukturen vor Ort zu knüpfen. Es war schnell klar, dass in der humanitären Krise im Balkan Unterstützung benötigt wird. Als Ende Dezember das Camp in Lipa brannte und sich die Lage dadurch verschlimmerte, fragten wir sofort nach, ob Bedarf nach einer Küche besteht. Als dies bejaht wurde, bildete sich eine Gruppe von fünf Menschen, die innert drei Tagen startbereit waren. Wir packten eine Feldküche und Kartonschachteln, gefüllt mit Kleidern und Schuhen, in unseren Van und fuhren nach Una-Sana, dem bosnischen Grenzkanton. Am selben Abend kauften wir Gemüse und stellten am nächsten Morgen voller Elan unsere Küche auf und begannen, Gemüse zu schnippeln. Kurz darauf stand die Polizei vor der Tür. Warme Mahlzeiten wären zwar wichtig gewesen, es wurde jedoch schnell klar, dass unsere Küche in Lipa nicht erwünscht war. Mit einem TouristInnen-Visum ist es verboten zu arbeiten. Freiwilligenarbeit, die Menschen in einer Notsituation unterstützt, gilt für die Behörden somit als ein Gesetzesverstoss.

 

Wie seid ihr dann vorgegangen? 

Frustriert mussten wir unsere Ziele erst mal überdenken. Wir kontaktierten das Rote Kreuz, das zurzeit die Verantwortung für das abgebrannte Camp trägt, und fragten, ob wir in ihrem Namen unser gekochtes Essen im Camp verteilen könnten. Ohne Erfolg.

Wir mussten einsehen, dass es nicht so einfach war, als EuropäerInnen nach Bosnien zu kommen und «einfach mal so zu helfen». Wir sprachen weder bosnisch, noch kannten wir die Regeln oder konnten die Situation, in der sich sowohl MigrantInnen als auch BosnierInnen befinden, nachvollziehen.

Als solidarische Person an einem Ort, der in einer humanitären Krise steckt, ist es wichtig, sich seinen Privilegien bewusst zu sein. Wir sind hier, weil wir es uns leisten können, hierhinzureisen, genauso wie wir jederzeit wieder nach Hause zurückkehren können. Wir mussten zuerst lernen und herausfinden, wie Unterstützung aus unserer Position heraus aussehen kann, ohne schlussendlich mehr Schaden anzurichten als zu helfen. So hatte unsere «Küchenaktion» am ersten Tag nicht nur Konsequenzen für uns, sondern auch für die Arbeit anderer Organisationen. Die Arbeit mit MigrantInnen in Bosnien ist gesetzlich nicht klar geregelt. Vielmehr ist sie eine Grauzone, in der HelferInnen im Endeffekt auf die Billigung der Polizei angewiesen sind. Wenn den Behörden etwas zu viel wird, wirkt sich das auch auf ihr Verhalten anderen Organisationen gegenüber aus.

In einem nächsten Schritt setzten wir uns mit BosnierInnen und Organisationen mit ähnlichen Zielen vor Ort in Kontakt und begannen, mit ihnen zusammenzuarbeiten. «No Name Kitchen» ist eine Organisation, die schon seit einigen Jahren vor Ort ist und Hilfe über ein Fake-Facebook-Profil anbietet. Das haben wir dann auch übernommen. Via Whatsapp und Facebook konnten uns MigrantInnen anschreiben. Im Anschluss vereinbarten wir einen Treffpunkt mit ihnen, wo wir Essenspakete und Powerbanks verteilten.

 

Gibt es für euch dort etwas wie einen «typischen Alltag»? Was sind eure Aufgaben?

Seitdem wir wieder mit der Essensausgabe begonnen haben, verteilen wir viermal pro Woche Essenspakete für 500 Menschen in Lipa. Mit deren Inhalt können die MigrantInnen zumindest selbst etwas kochen. Das Verteilen ist somit um einiges weniger auffällig als das Betreiben einer riesigen Feldküche. Dafür müssen jeden Tag verschiedene Aufgaben übernommen werden: Essenspakete vorbereiten, Nachrichten beantworten, einen Abholungszeitplan erstellen, Kleider und weitere Hilfsgüter organisieren, Essensbestellungen machen und noch mehr. Diese Aufgaben verteilen wir jeden Morgen bei unseren täglichen Sitzungen, in denen auch immer wieder Diskussionen zu Risikoeinschätzungen und Sicherheit aufkommen. Wir wissen, dass uns die Polizei jederzeit wieder stoppen könnte. Und das, obwohl wir die Hilfsgüter momentan nicht einmal selbst verteilen, sondern in der Nacht an einen bosnischen Freund liefern, der sie dann herausgibt.

 

Private HelferInnen und Hilfsorganisationen werden in Bosnien kriminalisiert. Weshalb braucht es neben etablierten Hilfsorganisationen private, internationale HelferInnen?

Im Camp in Lipa sind nur noch das Rote Kreuz und die AusländerInnenpolizei, das SFA, erwünscht. NGOs und internationalen Organisationen wurde die Zutrittsberechtigung entzogen. Für Medien und Auswärtige ist das Camp bereits seit Anfang Januar unzugänglich. Dafür gibt es verschiedene Ursachen, klar ist aber, dass so die Zustände im Camp in Lipa verschleiert werden. Seit einiger Zeit erhalten wir täglich Nachrichten von MigrantInnen, die medizinische Versorgung brauchen, die ihnen nicht gewährleistet wird. Die meisten Campbewohner leiden an starken Hautproblemen, vor allem Krätze. Auch die Nahrungsmittelversorgung ist nach wie vor unzulänglich. Die Flüchtenden bekommen täglich ein halbes Brot und eine Dose Sardinen oder Fleisch. Warme Mahlzeiten sind eine Seltenheit, und das, obwohl mehrere Organisationen, darunter auch wir, dem Roten Kreuz Unterstützung bei der Essensversorgung angeboten haben. Die etablierten Hilfsorganisationen sind also nicht nur unfähig, die Situation zu regeln, sondern auch selbst ein Teil der repressiven Strukturen, gegen die wir uns einsetzen. Die eigene Vermarktung ist ihnen oft wichtiger, als den Menschen auf der Flucht wirklich zu helfen. Daher ist es trotz Repression wichtig, Unterstützung auch an ihnen vorbei zu organisieren.

 

Lia – du wurdest während deines Einsatzes von der Polizei des Landes verwiesen. Wie kam es dazu?

Ich wurde zusammen mit vier weiteren internationalen HelferInnen zu einem Verhör vorgeladen. Wir besuchten den zuvor schon erwähnten bosnischen Freund. Auf seinem Grundstück wurden Essenspakete verteilt. An der Ausgabe waren wir jedoch nicht beteiligt. Der Aufenthalt in der Nähe einer solchen Aktion reichte jedoch aus, um unsere Pässe einzuziehen. Während des Verhörs versuchte die Polizei dann, uns alles Mögliche anzuhängen. Schlussendlich ist es fast egal, was du sagst. Ein Landesverweis mit einer Frist von sieben Tagen folgt in jedem Fall. Die bosnische AusländerInnen-Polizei SFA führt seit einigen Wochen auch ganz gezielt Passkon­trollen durch und hält Autos mit ausländischen Nummernschilder an. Sie hoffen, so Kleidung oder grosse Mengen an Essen zu finden und Helfer­Innen diskreditieren zu können.

 

Und was hast du in Bosnien erlebt? Was sind deine Eindrücke von der Lage vor Ort?

Es ist frustrierend zu wissen, dass wir nichts an der Situation, in der die Geflüchteten stecken, ändern können. Humanitäre Hilfe bekämpft Symptome, keine Ursachen. Klar können wir einigen Menschen den Alltag ein wenig erleichtern, aber am Ende bleibt ihre Lage doch beschissen.

Was mich besonders beschäftigt, ist die Opferrolle, in die MigrantInnen in den bürgerlichen Medien, aber auch durch humanitäre Arbeit selbst, gedrängt werden. Die Flüchtenden mögen zwar Opfer der europäischen Asylpolitik sein, aber vor allem sind sie Menschen, die nicht nur versuchen zu überleben, sondern zu leben und weiterzukommen. Sie haben Ziele, Wünsche und den Willen, alles für bessere Lebensumstände zu geben. Sie möchten nach Europa, um zu arbeiten und Geld zu verdienen, um die Familie, die sie zurückgelassen haben, zu unterstützen. Das wird verdrängt.

Ich merkte immer wieder, wie viel es den Menschen bedeutet, wenn sie uns helfen dürfen, zum Beispiel beim Tragen von Essenspaketen oder Holz. Den Geflüchteten wird jegliche Art von Selbstständigkeit genommen. Doch das Gegenteil sollte bei der humanitären Unterstützung im Zentrum stehen. Man sollte den Menschen ein Stück Autonomie zurückgeben und ein paar Möglichkeiten mehr, um selbst zu entscheiden. Das ist auch eine Kritik an meiner eigenen Arbeit: Wir geben den Menschen eine Auswahl an Grundnahrungsmitteln, die wir für sie treffen, und bestellen sie zu gegebener Zeit an einen bestimmten Ort. Den Menschen so auf Augenhöhe zu begegnen, ist unglaublich schwierig.

 

Im Kanton Una-Sana, dem bosnischen Kanton an der europäischen Grenze, ist es mehrmals zu Konflikten zwischen den Einheimischen und Flüchtlingen gekommen. Wie nimmst du, Annik, die Stimmung zwischen Einheimischen und Geflüchteten wahr?

Auf einem Spaziergang habe ich eine bosnische Frau getroffen, die mich fragte, ob die Menschen in der Schweiz Flüchtlinge mögen. Ich wusste nichts zu sagen. Wie viele SchweizerInnen haben wohl noch nie in ihrem Leben mit einem Migranten gesprochen? Die bosnische Bevölkerung in Una-Sana hingegen wurde mit Migration auf eine Art und Weise konfrontiert, die wir uns nicht einmal vorstellen können. Bevor das Camp in Lipa eröffnet wurde, kamen mehr als 2000 Menschen nach Bihac. Sie lebten auf der Strasse und in leer stehenden Ruinen, man traf sie vor jedem Laden und jedem Restaurant. Viele BewohnerInnen Bihacs hatten Angst, vermutlich nicht zuletzt aufgrund der nationalistischen Propaganda der bosnischen Regierung, die das Bild von MigrantInnen als eine entmenschlichte dunkle Masse verbreitet. Der Regierungschef des Kantons Una-Sana meinte in einer öffentlichen Medienmitteilung, dass die Umstände in den Camps so schlecht werden müssen, dass niemand mehr kommen möchte. Folglich gibt es nicht wenige BosnierInnen, die unsere Arbeit hier nicht gerne sehen. So wurden wir beispielsweise aus unserer ersten Wohnung hinausgeschmissen, sobald der Eigentümer, ein ehemaliger Polizist, erahnte, was wir hier machten.

Die Lage hat sich zu lange nicht verbessert, und der bosnische Staat hat weder die Ressourcen noch die nötige Stabilität, um diese Krise zu entschärfen. Dazu kommt, dass die meisten MigrantInnen auch nicht beabsichtigen, in Bosnien zu bleiben, sondern auf dem Weg nach Europa sind. Sie versuchen die kroatische Grenze zu überqueren, werden von der europäischen Grenzpolizei aber gewaltsam daran gehindert. Wenn Europa nicht bald Verantwortung übernimmt, werden sich die Konflikte in Una-Sana vermutlich noch verschärfen.

 

Wie, denkt ihr, geht es weiter an der bosnischen Grenze zu Europa?

«Bald ist das Wetter warm genug für das Game», heisst es, wenn sich eine Gruppe aufmacht, um die Bergkette und somit die kroatische Grenze zu überqueren. Immer darauf bedacht, nicht von den Drohnen der kroatischen Polizei entdeckt zu werden. Folglich können wir uns auf viele Pushbacks gefasst machen und Gruppen, die ohne Kleidung vom Game zurückkommen, deren Schuhe und sonstige Habseligkeiten von der kroatischen Polizei entwendet wurden. Für internationale HelferInnen scheint sich die Situation auch zu verschärfen. Gut möglich, dass wir schon bald alle des Landes verwiesen werden.

Was die politische Situation an der europäischen Grenze angeht, müsste sich vieles verändern. Wir glauben nicht, dass sich die Situation für MigrantInnen in Lipa verbessern kann, solange Bosnien auf sich alleine gestellt ist.

 

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