Super Nebelpetarde!
Eindringlich rät der Reiseführer für Istanbul davon ab, sich als Mann in öffentlichen Verkehrsmitteln auf den freien Platz neben einer Frau zu setzen. Vordergründig, weil es sich nicht ziemt. Im Gespräch mit Frauen jeden Alters hingegen verkehrt sich die Perspektive. Jeder noch so beiläufige Blickkontakt, jede Unterschreitung einer physischen Distanz muss ihrerseits tunlichst vermieden werden, weil Männer sich von der kleinsten gar unbeabsichtigten Geste dazu ermuntert fühlen können, sie als erotische Aufforderung zu lesen und sexuell übergriffig zu werden. Der Geist hinter der Verhüllung von Frauen – sei es in Afghanistan mit der Burka oder im wahhabitischen Königreich Saudi Arabien mit dem Niqab inklusive Handschuhe – ist die scheinbar naturgegebene Unfähigkeit des Mannes, seinen Sexualtrieb kontrollieren zu können. Historisch wurde dieser Reiz der Frau in allen abrahamitischen Religionen zunächst allein aufs Haupthaar projiziert, das es in der Folge zu verbergen galt, um den Mann als solches nicht unnötig zu reizen. Weil, wie es der von uns allen hochverehrte Roger Köppel in mehreren Editorialen der ‹Weltwoche› seinerseits formulierte: «Der Mann ist ein simpel gestricktes Tier. (…) Der stabilste Mann kann, wenn es um Frauen geht, von Kräften überwältigt werden, die sich keiner Kontrolle fügen.»
Eine solche Bankrotterklärung gleicht dem Abwehrmechanismus in der Psychoanalyse: ein vielgesichtiger Vorgang, der dazu dient, innerseelische oder zwischenmenschliche Konflikte auf eine Weise zu regulieren, um der seelischen Verfassung der (handelnden) Person Entlastung zu verschaffen. Augenscheinlich ein Defizit, dem proaktiv begegnet werden könnte. Mühsam? Ganz offensichtlich. Sehr viel einfacher ist da die kategorische Unterscheidung in Freund und Feind. Am einfachsten via Konstruktion von Korrelationen, die, wohlfeil formuliert, wie in sich stimmige Fakten anmuten, auf deren Basis nach Belieben zur gewünschten Schlussfolgerung gelangt wird, die dann als einzig mögliche logische Konsequenz verkauft werden kann. Für jene, die selbst das noch überfordert, bleibt die Variante der Behauptung. Im ausgehenden 19. Jahrhundert erkannte beispielsweise der politische Opportunist Karl Lueger den Antisemitismus als wirksames Mittel, um die Unzufriedenheit des Mittelstandes zu mobilisieren. Er nutzte ihn, um an die Macht zu gelangen. Nach seiner Wahl zum Bürgermeister Wiens 1894 und einer erlangten Mehrheit im Parlament erkor er sein alles versimplifizierendes Credo zur Maxime: «Wer ein Jud’ ist, das bestimme ich.» Dieser absolute Machtanspruch bedingt wiederum das Durchregieren. Fertig ist das Perpetuum mobile.
Der gemeine Schweizer sehnt sich danach, in Ruhe gelassen zu werden. Am liebsten wäre ihm, wenn alles so bliebe, wie es «schon immer» war. Bietet sich eine verbale wie auch inhaltliche Verkürzung an, um sich einer Selbsthinterfragung zu entziehen, wird diese noch so gerne unkritisch verinnerlicht und im Anschluss als Überzeugung laut vor sich hergetragen. Und aus ist. Mit den Schlagworten «Extremismus stoppen», «wirksame Terrorabwehr», «Schluss mit vermummten Chaoten» und sogar «Ja zur Gleichberechtigung» verquirlt das Initiativkomitee für ein schweizweites «Verhüllungsverbot» gleich mehrfache Ursachen für ein diffuses Unwohlsein oder Unrechtsgefühl und preist eine einzige Massnahme als alleinmögliche Lösung an. Super Nebelpetarde!
Wie bereits beim «Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit» (BWIS), wo es als viel einfacher – und zielführender! – umsetzbar verkauft wurde, Fussballfans als «Hooligans» zu diffamieren und sie auf Verdacht hin in einer Datenbank zu registrieren als etwa die Clubs zu zwingen, die Sicherheit in den Stadien vom ausübenden Organ des Gewaltmonopols gewährleisten zu lassen (Gegenargument: viel zu teuer), droht auch hier eine unstatthafte Verkürzung und darüber hinaus eine Verkehrung der Unschuldsvermutung/Beweislast. Wenn der Mann dermassen von seiner Libido beherrscht wird, dass er gar nicht anders kann, als jede vorbeieilende Frau zu bespringen, muss diese verhüllt werden. Und aus ist. Dass es für betreffende Frauen, bei der Sicht der Dinge, unter Umständen sehr viel bequemer ist, sich den mehrmals täglichen tätlichen/sexuellen Übergriffen im ganz ordinären Alltag damit zu entziehen, indem sie eine Verhüllung auf sich nehmen, kann von ihnen als geringeres Übel hingenommen werden. Der Potentat kann sich derweil in gewohnter Selbstherrlichkeit weiter gebärden wie immer und dies nurmehr auch noch mit einem Gefühl der überlegenen Genugtuung, etwas Gutes getan zu haben. Das dahinterstehende Respektsproblem muss überhaupt nicht angegangen werden, wenn ein Stück Stoff alleine oder andernorts separierte U-Bahnwagen für Frauen für Ruhe im Karton sorgen.
So entlastet sich der Mann davon, grundlegende Korrekturen im Selbstverständnis vornehmen zu müssen. Und dieses ist, zieht man den von uns allen hochverehrten Roger Köppel zurate, auch hierzulande vorsteinzeitlich. Irgendjemand muss es schliesslich für vollkommen gerechtfertigt halten, einer Frau für dieselbe Tätigkeit weniger Lohn zu bezahlen. Und irgendjemand muss die mindestens seit Jahrzehnten angestrengte Gleichberechtigung in allen Lebenslagen mit dem Kampfbegriff der «Gleichmacherei» aufladen, um dann einer angeblichen Widernatürlichkeit der Emanzipation das Wort zu reden. Eine vergleichbare Umkehr lässt sich genauso im Umgang mit den verschiedenen Formen des Islam beobachten. Wer finanziert(e) «Al-Qaeda» und «Daesh» , die je dieselbe Weltreligion dazu missbrauchen, eine vollends areligiöse Terrorherrschaft zu etablieren, die mit Gut/Böse, Richtig/Falsch alles Abweichende drangsaliert bis ausmerzt? Und wie ist der Ruf der Wahhabiten, wenns um wirtschaftliche Partnerschaften und Waffenlieferungen geht? Im Gegensatz dazu wird «die Dame auf dem Schachbrett des mittleren Ostens» (Arnold Hottinger) Iran grundsätzlich dämonisiert. Völlig unabhängig davon, wie vergleichsweise ausgeprägt die dortige Chancengleichheit ist oder mit welchem Effort Iran die Ausbreitung von «Al-Qaeda» und «Daesh» bekämpft. Islam ist Islam. Eine Differenzierung lohnt nicht. Ungläubiger oder Terrorist genügt für eine Polarisierung. Es gilt: «Wer ein Feind ist, bestimme ich.» Diesmal: Jene, die ihr Gesicht nicht zeigen (auch jener hinter der abgedunkelten Autoscheibe?). Nur zu, stimmen Sie Ja zum Verhüllungsverbot und lösen Sie gleich die drängendsten Probleme der Zeit auf einen Streich. Vergessen Sie aber nicht, sich das Resultat auf den Gürtel zu sticken und damit die Riesen in die Flucht zu schlagen – oder sich, anders als im Märchen, mit ihnen gemein zu machen. Etwa mit einem Sozialkreditsystem, das auch noch den öffentlichen Raum überwacht und dafür sorgt, dass das Fussvolk künftig mehr Aufrichtigkeit im sozialen Verhalten zeigt.