Ein Urteil mit Folgen

Die Klimaseniorinnen, ein Verein mit über 2000 Mitgliedern, hat mit Unterstützung von Greenpeace beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Klage gegen die Schweiz eingereicht. Am Dienstag wurde das Urteil in Strassburg verkündet: Die Klimaseniorinnen haben in wesentlichen Punkten gesiegt.

Das Urteil von Strassburg sei das «beste Urteil», das sie hätten erwarten können, meint die Rechtsanwältin Cordelia Bähr, die die Klimaseniorinnen vertritt, gegenüber den Medien. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist nämlich zum Schluss gekommen, dass die Schweiz zu wenig tue, um Seniorinnen vor dem Klimawandel zu schützen. Der Gerichtshof stellt eine Verletzung von Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention fest. In Artikel 8 ist der Schutz des Privat- und Familienlebens verankert. Der Schutz der Gesundheit ist dafür die Voraussetzung. Ebenso sei den Klimaseniorinnen ein faires Verfahren verwehrt worden, weil alle Gerichte die Klimaseniorinnen haben abblitzen lassen.  

Warum man den Weg vor Gericht gesucht hat, hat Cordelia Bähr vor einem Jahr im P.S. ausgeführt: «Für einen menschenrechts- und verfassungskonformen Klimaschutz sind das Parlament und die Verwaltung genauso in der Verantwortung wie die Gerichte. Gerade die Verwaltung vergisst man in dieser Debatte oft. Dabei sind sie die Fachexpert:innen vom Bund, die das Parlament beraten und die Verfassungsmässigkeit von neuen Gesetzesentwürfen beurteilen. Doch was ist, wenn das Parlament und die Verwaltung ihre Aufgabe nicht wahrnehmen? Dann sind die Gerichte zuständig, um Menschenrechtsverletzungen zu beurteilen und festzustellen.» In der Schweiz sind die Gerichte zum Schluss gekommen, die Seniorinnen seien nicht besonders vom Klimawandel betroffen, weil ja eigentlich alle vom Klimawandel betroffen seien. Diese besondere Betroffenheit ist in der Schweiz aber nötig, um ein Verwaltungsverfahren durchzulaufen, wie Cordelia Bähr vor einem Jahr ausgeführt hat. Mit dem Urteil aus Strassburg müssten sich die Schweizer Gerichte mit der Klage der Klimaseniorinnen befassen. Was die nächsten Schritte sind, müssen aber die Klimaseniorinnen noch beraten, sie wollen auch das Urteil noch genauer studieren.

«Hausaufgaben machen»

Grüne und SP sprechen von einem historischen und wegweisenden Urteil. Lisa Mazzone, neue Präsidentin der Grünen meint, dass jetzt verbürgt sei, dass das Recht auf eine gesunde Umwelt ein Grundrecht sei. Mattea Meyer, Co-Präsidentin der SP Schweiz spricht von einer Ohrfeige für den Bundesrat. Auch Jürg Grossen, Präsident der Grünliberalen, sieht das Urteil als Auftrag für die Schweiz, die Hausaufgaben zu machen. Die SVP sieht dies naturgemäss anders und will aus dem Europarat austreten und die Europäische Menschenrechtskonvention kündigen. Christian Wasserfallen (FDP) und Gerhard Pfister (Mitte) kritisieren den Entscheid, weil er die direkte Demokratie der Schweiz ausheble: «Der EGMR verurteilt ausgerechnet die Regierung des Landes, die nur das tun kann, was die Bevölkerung will. Auch in Klimafragen», schreibt Gerhard Pfister auf Twitter/X. Hierzu lässt sich allerdings sagen, dass die Klimaseniorinnen nicht die einzigen sind, die nach einem Volksentscheid vor Gericht ziehen, wie zum Beispiel die Fälle der angefochtenen Mindestlöhne in Zürich und Winterthur zeigt. Zudem ist diese Kritik am EGMR nicht neu, sondern kommt immer wieder auf.  

Keine fremden Richter

Ulrich Gut von «Unser Recht», weist darauf hin, dass es sich beim EGMR nicht um fremde Richter handelt. Die Schweiz hat die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet, sie ist Mitglied des Europarats und stellt wie jedes Mitglied auch einen Richter. Die Schweiz hat dies mit einem klaren Nein zur Selbstbestimmungs­initiative der SVP auch jüngst an der Urne wieder bekräftigt. Das Urteil schreibe dem Bundesrat explizit keine politischen Massnahmen vor, sondern überlässt es der Verantwortung der Politik, wie der Klimaschutz gestärkt werden kann. Umweltminister Albert Rösti (SVP) sieht derweil keinen Handlungsbedarf: «Die Schweiz ist gut unterwegs», meint er gegenüber dem ‹Blick›. Dennoch wird das Urteil gewisse Folgen haben müssen. «Das Ministerkomitee des Europarats hat die Aufgabe, die Umsetzung von EGMR-Urteilen zu überwachen. Der Bundesrat wird dem Komitee berichten müssen, was die Schweiz unternommen hat», meint Völkerrechtsprofessor Andreas Müller gegenüber dem ‹Tages-Anzeiger›.  

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