Die Dame aus den Wellenhügeln

«Nein, mein lieber Charles, so leicht gebe ich nicht auf. Eine Schau­stickerin, die mit sechzehn ihre Kunst in den europäischen Metropolen vorführt und mit siebenundzwanzig mutterseelenallein nach Amerika dampft, mit nichts im Gepäck als einer Sticknadel aus englischem Stahl, einem Ballen feinster Leinen aus Frankreich und der Appenzeller Tracht, aber mit der festen Absicht, sich dort ein einigermassen vernünftiges Leben zu sticken, die gibt nicht auf.» Charles war die grosse Liebe der Maria Antonia Räss, der Tochter eines Geissenbauers aus Eggerstanden, deren Leben Margrit Schriber in ihrem neuesten Buch «Die Stickerin» schildert. Mit Charles verbrachte sie eine einzige Nacht im Ritz in Paris. Weil beide es zunächst nicht schafften, früher zusammen zu kommen und später, weil Charles im jüdischen Widerstand gegen Hitler umkam. Die zweite Liebe, die sich zu einer lebenslangen Freundschaft entwickelte, war jene zu Walter Disney.

Maria Antonia Räss legte so etwas wie eine Traumkarriere hin, die sie sich selber schuf: «Den Zauber, den sie auf Männer ausübte, hätte sie zu ihrem Vorteil nutzen können. Doch sie wollte es alleine schaffen. Frei sein. Selbst entscheiden.» Diese Freiheit bedeutet nie die Loslösung von ihrer Familie, die sich nach ihrem Tod im Rathaussaal zu Appenzell zu 34 Personen einfand, um sich vom Notar und seiner Gehilfin, die die Geschichte erzählt, den Nachlass zu erklären. Sie hoffen auf einen reichen Segen, aber auch auf eine «Stobete», an der die Erinnerungen an die «Crazy Lady» ausgetauscht werden.

Hulda Zellweger, die Mutter ihres Gottenkindes, erklärt das Verhältnis zu ihr folgendermassen: «Wir lernen Fädeln, trotz kuhnägelnden Füssen, trotz knurrendem Magen. Aber wir haben nie gelernt, wie man einen Betrieb mit halbem Personalbestand durch den gnadenlosen Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt führt. Diese Fähigkeit besass bloss diese kleine Verrückte mit dem hellen Verstand, den strategischen Fähigkeiten und eisernen Nerven.» Mit diesen Fähigkeiten setzte sie sich in New York, nach einem sehr harten Angang schliesslich durch, führte am Schluss ein grosses Geschäft. Sie benötigte dazu die Hilfe ihrer Schwestern und andere Stickerinnen, die von Appenzell zu ihr nach New York kamen, und sie gab auch immer Bestellungen ins Land der Wellenhügel. Weniger benötigte sie die Unterstützung von Nico, einem Gaukler und Lebenskünstler aus Appenzell, der behauptete, er habe sie geheiratet, auch wenn sie die Ehe nie vollzogen hätten.

Das grosse Vermögen kam bei der Erbteilung nicht zum Vorschein, wohl aber die Erinnerung an die reiche Tante aus Amerika, die jährlich ihre Heimat besuchte, im Hotel Adler empfing, viele Löcher bei Verwandten stopfte und vor allem beträchtliche Beiträge an die neue Kirche in Eggerstanden spendete. Dabei als grosse Dame mit Chauffeur und grossem weissem Auto in Appenzell vorfuhr.

Margrit Schriber ist ein wunderbares, nicht immer ganz einfaches Buch gelungen, das der Stickkunst, der Maria Antonia Räss und den Appenzeller:innen ein Denkmal setzt: mit viel Liebe, Ironie und fast ohne Kitsch.

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.