Ein revolutionäres Zeitalter?

Eine Zeitlang habe ich mich für die Frage inte­ressiert, warum Zivilisationen untergehen. Warum endete das römische Reich? Was passierte auf der Osterinsel? Warum ging das Maya-Reich unter? Dazu gibt es eine Reihe von Thesen, gar ein ganzer Wissenschaftszweig, die Kollapsologie. Und wie immer gibt es eine ganze Reihe von Gründen und wie immer weiss man nicht so sicher, welche genau. Das können Umweltkatastrophen sein oder Krankheiten, Kriege oder Ressourcenknappheit. Aber auch Ungleichheit, Korruption oder Unterdrückung. Eine früher beliebte These zum Untergang des römischen Reichs ist die «Dekadenz-Theorie», wonach das römische Reich untergegangen sei wegen dem zunehmenden moralischen Zerfall. Die leichte Abwandlung dieses Klagen ist das Argument der Wohlstandsverwahrlosung. Sprich: Es geht uns (noch) zu gut. Meist mit einem etwas drohenden Unterton. Warum wurde die 13. AHV-Rente angenommen? Weil es uns zu gut geht. Warum steigen die Gesundheitskosten? Es geht uns noch zu gut. Warum arbeiten mehr Leute Teilzeit? Es geht uns eben zu gut. Dieses Argument wird in der Regel von Leuten verwendet, denen es tatsächlich gut geht. 

Die Frage, wie gut es uns aber tatsächlich geht, ist nicht ganz so trivial. Es häufen sich die Studien, wonach immer mehr Menschen die Zukunft pessimistisch einschätzen. Insbesondere die Jüngeren. Zum Beispiel in der Trendstudie «Jugend in Deutschland 2024». Die Mehrheit der befragten Jugendlichen glaubt, dass sich die wirtschaftliche Lage verschlechtern wird. Ebenfalls Angst machen den Jugendlichen Krieg in Europa und im Nahen Osten, der Klimawandel, teurer Wohnraum und die Spaltung der Gesellschaft. Die stärkste Partei bei den Jugendlichen ist die AfD. Dieser Pessimismus ist aber nicht neu. Schon seit längerer Zeit haben viele Menschen den Glauben verloren, dass es der nächsten Generation einmal besser gehen wird. 

Der Rechtspopulismus ist auf der ganzen Welt auf dem Vormarsch. Selbst in Deutschland das aufgrund seiner Geschichte lange Zeit immun schien, bröckelt die selbstdeklarierte Brandmauer beträchtlich. Der Journalist und Politikwissenschaftler Fareed Zakaria zieht in seinem neuen Buch «Age of Revolutions» (Zeitalter der Revolutionen) Parallelen zwischen dem 19. Jahrhundert und der Gegenwart. Im 19. Jahrhundert war das Zeitalter der industriellen Revolution, der Umwälzung der Gesellschaften von Agrar- in Industriegesellschaften, der liberalen Revolutionen, die nur in der Schweiz erfolgreich war und dennoch prägend war. Diese Zeit sei vergleichbar mit unseren, in der massive ökonomische, gesellschaftliche und insbesondere technologische Veränderungen stattfinden. Zakaria zitiert dabei Marx und Engels, die im kommunistischen Manifest schrieben: «Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.» Es ist also diese Verunsicherung durch die ständigen Veränderungen, die zur Revolution führen kann. Oder mindestens zur Sehnsucht danach. Jetzt ist die die Geschwindigkeit der Veränderung noch stärker und mit der Entwicklung von künstlicher Intelligenz und den Fortschritten bei der Genom-Editierung potenziell noch weitreichender. 

Es ist aber nicht nur die Technologie, die Veränderungen ausgelöst hat. 1989 fiel die Berliner Mauer. Wo sich im Kalten Krieg zwei Grossmächte gegenüber standen, blieb danach nur eine übrig. Und es begann der Siegeszug der Globalisierung, der Liberalisierung und der Öffnung. Aber das «Ende der Geschichte», das der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama im gleichnamigen Buch 1992 ausrief, ist nicht eingetreten. Die Demokratisierung ist rückläufig. Und auch die Geopolitik wird wieder multipolar: Russland will die einstige Macht zurückerlangen und auch China zeigt sich zunehmend ambitioniert. Die Alternativlosigkeit und Überlegenheit des ungebremsten Kapitalismus wurde durch die Finanzkrise 2008 jäh infrage gestellt. 

In Zeiten der Unsicherheit sehnen sich die Menschen wieder zurück nach alten Gewissheiten, nach einer Vergangenheit, die es vielleicht nie gab, die aber immer schöner wirkt, je weniger man sich daran erinnern kann. «Make America great again» verspricht denn auch Präsidentschaftskandidat Trump. Es sind auch die Freiheiten, die zunehmende Individualisierung, die den Menschen zu schaffen machen. In Francis Fukuyamas «Ende der Geschichte» siegt zwar der Kapitalismus, aber dieser Sieg führt dazu, dass sich die Menschen, weil sie keine Ideologie mehr hätten, an keine Sache mehr glaubten, die grösser ist, als sie selber, dazu verdammt seien, ihre materiellen Bedürfnisse zu befriedigen, immer neue Bedürfnisse zu kreieren und sich dabei dennoch leer zu fühlen. Diese Leere können Nationalismus, Autoritarismus füllen. Und gleichzeitig ist auch das Gefühl der ökonomischen Stagnation nicht einfach nur ein Gefühl, jener denen es noch zu gut geht. Denn die reale Lohnentwicklung hält tatsächlich mit den steigenden Kosten bei Wohnen und Gesundheit nicht Schritt.
Freiheiten und Optionen, Vielfalt und Pluralismus können zudem auch immer überfordern. Kein Wunder sind es die strikten Religionen, die Zulauf haben, während die gemässigteren wie die Landeskirchen an Mitglieder verlieren. Das Leben ist auch einfacher, wenn einem alles vorgeschrieben wird. 

Es gibt gute Gründe dafür, pessimistisch in die Zukunft zu blicken, den Klimawandel habe ich hier gar noch nicht erwähnt. Aber gleichzeitig kann man sich auch ernsthaft fragen, ob es – und natürlich ist das eine privilegierte Sicht – wirklich Zeiten gab, in denen das Leben besser war als heute. Bei aller Nostalgie für die Nachkriegszeit, wer wünscht sich wirklich zurück in die Zeit, in der es Konkubinatspaaren noch verboten war, zusammenzuleben, Katholikinnen nicht als Lehrerinnen im Kanton Zürich zugelassen wurden, als Homosexualität noch verfolgt wurde und Linkssein zu einem Berufsverbot führen konnte? Auch global gibt es einige Fortschritte, die man anerkennen musste. Die Kindersterblichkeit weltweit sinkt, die Alphabetisierungsquoten nehmen zu, extreme Armut nimmt ab. 

Und trotz aller Probleme darf man nicht vergessen, dass es auch Lösungen gibt. Die wir in einer Demokratie auch selber bestimmen können. Wir sind in der Demokratie, wie die Publizistin Marina Weisband in einem Interview mit der ‹Republik› darlegt: «nicht Konsumentin, sondern Gestalterin.» Demokratie müsse gelebt werden: «Wo in Infrastruktur investiert wird, gibt es niedrigere Umfrageergebnisse für die Rechtsaussenparteien. (…) Wo in Gesundheitserhaltung, in Sozialsysteme, in öffentlichen Verkehr investiert wird und übrigens auch, wo es eine starke Lokalpresse gibt, da verlieren die Rechten.» Das ist keine Revolution, aber ein Anfang. 

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