«Die Zürcher Studierendenzeitung ist hundert Mal fast gestorben»

Die Zürcher Studierendenzeitung feiert dieses Jahr ihr 100-jähriges Bestehen. Zum Jubiläum wurde ihre bewegte Geschichte in einem Buch aufgearbeitet. Isabel Brun sprach mit dem Mitherausgeber Michael Kuratli und der Medienexpertin Sarah Genner über «100 Jahre Zoff», ihre Zeit als Redaktor:innen und das Erfolgsgeheimnis der erfolgreichsten Studizeitung im deutschsprachigen Raum.

Michael Kuratli, Sie und die beiden anderen Herausgeber waren einmal für die Zürcher Studierendenzeitung (ZS) tätig, mittlerweile haben Sie Ihre Uni-Abschlüsse in der Tasche. Wie kommt es dazu, dass Sie mehrere Jahre nach Ihrem Abgang ein Buch über die ZS veröffentlichen?

Michael Kuratli: Bereits zum Neunzigjährigen haben wir uns Gedanken zum Hundertjährigen gemacht. Da ich wusste, dass ich dann nicht mehr für die ZS arbeiten werde, war das nicht ganz ohne. Die Redaktion der ZS hat das Gedächtnis eines Goldfischs und ich wollte auf keinen Fall riskieren, dass das 100-Jährige sang- und klanglos vorübergeht. Deshalb habe ich mich vor drei Jahren mit zwei meiner ehemaligen Redaktionskollegen, Oliver Camenzind und Johannes Luther, zu einem Bier getroffen. Danach war klar, dass wir zusammen etwas auf die Beine stellen wollen.

War zu diesem Zeitpunkt bereits klar, dass es ein Buch werden sollte?

M. K.: Dass wir etwas ‹Richtiges› machen wollen, hat sich schnell herauskristallisiert. Wenn schon, denn schon, lautete die Devise. Wir hatten gar die Vision eines Dokumentarfilms, mussten aber einsehen, dass das unsere Möglichkeiten übersteigt. Finanziell und zeitlich – das Projekt lief für uns alle drei ja neben unseren jeweiligen Jobs her. Ein Buch war deshalb realistischer. Wobei es auf keinen Fall eine langweilige wissenschaftliche Abhandlung werden sollte. 

Sondern?

M. K.: Eine 352-seitige ZS; mit Geschichten von Menschen, welche die Zeitung zu dem gemacht haben, was sie heute ist. Ausserdem war es unter anderem Teil des Projekts, alle Bestände zu digitalisieren, um die Grundlage für weitere Forschung zum studentischen Journalismus zu schaffen. Da entdeckt man über hundert Jahre einige wichtige Namen. Unter anderem jene von Max Frisch, Kurt Tucholsky oder Annemarie Schwarzenbach, die einst Zeilen für die ZS geschrieben haben. 

Und sie waren alle auf Streit aus, oder wie kam der Titel «100 Jahre Zoff» zustande?

M. K.: Nicht alle, aber es zeigte sich schon, dass die ZS historisch betrachtet dann interessant war, als man sich traute, Stunk zu machen und anzuecken. Zum Beispiel kurz nach der Gründung in den 1930er-Jahren, als sie frontistisch geprägt war, oder während des Vietnamkriegs Ende der 1960er. 

Sarah Genner: Dabei gab es bei der ZS durchaus auch Phasen, die weniger zoffig waren. So hat der spätere UZH-Professor für politische Philosophie, Georg Kohler, der während der 1980 er-Bewegung in der ZS-Redaktion sass, eher versucht, die Wogen zu glätten und zwischen pro- und antikommunistischen Kräften an der Uni eine vermittelnde Position einzunehmen. Es kam also auch darauf an, welche Persönlichkeitstypen gerade für die Zeitung arbeiteten. 

M. K.: Oder wer sich durchgesetzt hat. Die Diskussion darüber, ob man ein Schnarch- oder Kampfblatt sein will, flammte auch während meiner Zeit bei der ZS immer wieder auf. Es gibt ja nicht einen Vereinszweck, der vorschreiben würde, welche Linie die Zeitung fahren muss. In den hundert Jahren hat sich die ZS hundert Mal verändert – und ist hundert Mal fast gestorben.

Eigentlich ein Wunder, dass es sie heute noch gibt.

M. K.: Irgendwie schon. Zumal sie ein paar Jahre nach der Gründung beinahe wieder eingestampft wurde. Nur weil zu wenig Studierende darüber abgestimmt haben, wurde der «Zürcher Student», wie die ZS zu dieser Zeit hiess, weitergeführt. 

Und heute ist sie die grösste und älteste Studierendenzeitung im deutschsprachigen Raum. Sarah Genner, was ist das Erfolgsgeheimnis der ZS?

S. G.: Nun, Tradition verpflichtet. Je länger es die Zeitung gibt, desto mehr Druck lastet auf den aktuellen Chefredaktor:innen, an bisherige Erfolge anzuknüpfen. Ausserdem bin ich davon überzeugt, dass der hohe Grad an Selbstorganisation dazu führt, dass in erster Linie intrinsisch motivierte Studierende für die ZS schreiben. Warum würde man sonst bis mitten in der Nacht noch Texte redigieren oder am Layout feilen?

Weil man dafür Credits erhält?

S. G.: Nein, das ist der Witz an der Sache: Ruhm, Ehre und journalistische Erfahrung sind die einzige Vergütung, die man als Redaktor:in bei der ZS erhält, denn sie ist nicht im Curriculum integriert. Ein Kritikpunkt, der immer wieder genannt wird. 

Was ist Ihre Meinung dazu? Immerhin waren Sie Mitte der 2000er-Jahre ebenfalls Teil der ZS-Redaktion.

S. G.: Ich bin zwiegespalten. Zum einen verstehe ich den Gedanken, dass die journalistische Praxiserfahrung ideal in ein medien- und kommunikationswissenschaftliches Studium passen würde, und daher Kreditpunkte angemessen wären. Zum anderen glaube ich, dass gerade Leistungspunkte die falschen Personen anziehen und so die intrinsische journalistische Motivation verloren gehen könnte.

Was für Personen zieht die ZS denn an?

S. G.: Junge Menschen, die sich für gesellschaftspolitische Prozesse interessieren und Debatten aktiv mitgestalten möchten. Es ist kein Zufall, dass viele ehemalige Redaktor:innen heute in grossen Medienhäusern sitzen oder politische Ämter innehaben. 

Welche Rolle spielen Studierendenzeitungen für die Gesellschaft?

S. G.: Eine nicht zu unterschätzende. Sie dienen einerseits als Labor, wo man sich ausprobieren und Grenzen ausloten kann – losgelöst von den üblichen Vorgaben im Uni-Alltag. Andererseits gelten sie als wichtige Ausbildungsstätten, weil sie Interessierten niederschwellig Zugang zur Medienwelt bieten und so erste journalistische Erfahrungen gemacht werden können. Für mich waren die Abende in den Redaktionsräumen der ZS die lehrreichste Zeit während meines Studiums. Man ist ja nicht nur Redaktor:in, sondern auch Produzent:in und Verleger:in. 

M. K.: Wir hatten ja sogar die Arroganz zu sagen, dass wir die beste Journalist:innenschule sind, die es gibt! 

Das würde bedeuten, dass andere Journalist:innenschulen hinfällig wären.

S. G.: Es ist schon so, dass zum Beispiel journalistische Ausbildungsstätten wie die Zürcher Hochschule der Angewandten Wissenschaften (ZHAW) dafür kritisiert werden, dass ihre Abgänger:innen zwar gute Texte schreiben und in kürzester Zeit Videos schneiden können, aber aufgrund von fehlendem Hintergrundwissen inhaltlich zu wenig auf dem Kasten haben. Früher war es der Königsweg, eine Disziplin wie Geschichte und Germanistik zu studieren und danach durch Volontariate das journalistische Handwerk zu erlernen. Bei der ZS ist das noch möglich.

M. K.: Es braucht sicher beides. Für mich hat sich der Weg bei der Studierendenzeitung als der richtige herausgestellt. Ich entwickelte ein Gespür für gute Geschichten. Auch Nina Kunz, die ihre Karriere ebenfalls bei der ZS startete, beschreibt ihre Jahre bei der ZS in unserem Buch als sehr prägend: Alles sei plötzlich relevant geworden, jedes Seminar, jede Auseinandersetzung in der Mensa. Nicht nur bezüglich meiner journalistischen Fähigkeiten habe ich der ZS viel zu verdanken, auch sind daraus viele Freundschaften entstanden. Es schweisst zusammen, wenn man unzählige Stunden gemeinsam Texte redigiert und an Titeln feilt. 

Die ZS ist also mehr als ein journalistisches Endprodukt?

M. K.: Ja. Es ist vielmehr ein Lebensgefühl. Das haben wir auch versucht, im Buch «100 Jahre Zoff» zu verpacken.

Wer schwelgt nicht gerne in Erinnerungen?

M. K.: Genau. Es war uns deshalb wichtig, dass das Buch auch für Leser:innen spannend ist, die nicht mit der Zürcher Studierendenzeitung vertraut sind. Es soll Spass machen, darin zu stöbern. 

Hundert Jahre ist eine lange Zeitspanne: Wie haben Sie entschieden, was im Buch Platz finden soll und was nicht?

M. K.: Es gibt wichtige Eckpunkte, die zwingend thematisiert werden mussten: Die Entstehungsjahre, die 1968er-Bewegung, die Abschaffung des Uni-Parlaments Ende der 1970er oder die Gründung der Wochenzeitung (WOZ), die aus der ZS-Redaktion entsprungen war. Auch die diversen Namens- und Geschlechterwechsel der Zeitung sind ein wesentliches Kapitel. 

Viele Jahre lang hiess sie «Zürcher Studentin», bevor sie 2007 zur «Zürcher Studierendenzeitung» wurde. War das politisch motiviert?

M. K.: Ja, um 1994 machte die Zeitung eine radikale Geschlechtsumwandlung durch. Die Motivation kam klar von politisch linker Seite. Auf einen Schlag wurden alle Texte im generischen Femininum verfasst. Man war unserer Zeit viele Jahre voraus. 

S. G.: Es ist interessant, wie viele politische Debatten, die heute in der breiten Öffentlichkeit geführt werden, bereits Jahrzehnte zuvor im studentischen Rahmen stattgefunden haben. Als wäre es ein Frühstadium von dem, was noch passieren wird. 

Wie politisch ist sie heute?

M. K: Ihr Herz schlägt wohl noch immer links, aber weniger prominent. Und vielleicht auch etwas weniger radikal. So war es zumindest, als ich noch in der Redaktionsleitung war. Ich empfand die Universität immer als kleinen Staat und die ZS als vierte Gewalt, die abbildet und einordnet. Das war mein persönlicher Anspruch an meine Arbeit – und meine damaligen Kolleg:innen sahen das zum Glück ähnlich.

S. G.: Ein schöner Vergleich mit der vierten Gewalt. Ich habe den Eindruck, dass die ZS seit der Neuausrichtung im Jahr 2007 an Qualität gewonnen hat. Die Beiträge sind ausgewogener und inhaltlich breiter abgesteckt. Dass die Zeitung in den letzten Jahren mehrere Preise gewonnen hat, bestätigt diese Wahrnehmung. Die ZS macht ernstzunehmenden Journalismus. 

Entgegen dem Trend in der Medienlandschaft ist die ZS dem Print treu geblieben.

S. G.: Meiner Meinung nach trägt diese Entscheidung zum Erfolg bei. Es ist zeitgemäss, dass man auch auf digitalen Kanälen Inhalte verbreitet, aber eine Abschaffung des Prints käme einem Bruch mit der Tradition gleich. Eine gedruckte Zeitung hat ausserdem den Vorteil, dass sie in den Briefkästen aller UZH-Studierenden im Aufmerksamkeits-Wettbewerb weniger Konkurrenz hat als in überfüllten Inboxes oder Instagram-Feeds.

Zur Zukunft der ZS werden Sie als Ehemalige nicht mehr viel beitragen können.

S. G.: Das stimmt. Aber ich bin mir sicher, dass die ZS weiterhin ihren Weg machen wird. Dass sie das kann, hat sie über hundert Jahre lang bewiesen.

M. K.: Als ich die ZS im Jahr 2016 verliess, meinte ich noch zu den damaligen Redaktor:innen: «Fahrt diese Zeitung einfach nicht an die Wand.» Weil ich befürchtete, dass sie das hundertjährige Jubiläum nicht mehr erleben könnte. Meine Angst war zum Glück unbegründet.

Johannes Luther, Michael Kuratli, Oliver Camenzind: 100 Jahre Zoff. Die Geschichte der Zürcher Studierendenzeitung. Hier und Jetzt 2023, 352 Seiten, 39 Franken.

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