Der neue Boy im Café

Das Café Boy kämpft mit finanziellen Schwierigkeiten. Ein neuer Geschäftsleiter soll das linke Stammlokal wieder auf die Beine bringen.

Das Café Boy beim Lochergut im Kreis 4 ist ein Stück Zürcher Arbeitergeschichte. Gegründet 1934 von der Proletarischen Jugend Zürich (die heute als «bonlieuGenossenschaft» noch immer Verwalterin des Hauses ist), war die Beiz beim Anny-Klawa-Platz über viele Jahre Fixstern für linke Arbeiter, Aktivistinnen und Intellektuelle. Während des Spanischen Bürgerkriegs, des Zweiten Weltkriegs und der Jugendunruhen der 1980er-Jahre dienten seine Räumlichkeiten als Versammlungsort, in den 1950er-Jahren wohnten über dem Lokal mit Rosa Grimm und Mentona Moser zwei Gründungsmitglieder der Kommunistischen Partei der Schweiz. Heute befinden sich über dem Restaurant zwei Seminarräume – sie tragen die klingenden Namen «Karl Marx» und «Rosa Luxemburg». Ab 2010, unter der Ägide der Szene-Gastronomen Stefan Iseli und Jann M. Hoffmann bewegte sich das «Boy» weg von «Züri brennt» und hin zu Schwarzwurzel im Knuspermantel, Hereford-Entrecôte und lauwarmem Morchelflan. Mit dieser eher bourgeoisen Küche verdiente sich das Boy bemerkenswerte 14 Gault-Millau-Punkte, Lamborghinis und Porsches besetzten die Parkplätze an der Sihlfeldstrasse. Neun Jahre später zogen Hoffmann und Iseli weiter – und die  SP-nahe Genossenschaft «Wirtschaft zum guten Menschen» schnappte sich das frei gewordene Pächteramt. Ihr Ziel: Einen Raum schaffen, in dem alle, vom Student bis zur Managerin, politisieren, trinken und essen können. Zurück zu den Quartierbeiz-Wurzeln, zurück zu Marx und Luxemburg. Rund 400 Genossenschafter:innen und weitere Spender:innen unterstützten das Vorhaben finanziell. 

Doch der Startschuss des Projekts ist denkbar unglücklich gewählt: Kaum ein Jahr nach der Übernahme muss das neue alte Café Boy pandemiebedingt wieder schliessen, und ohne über die vergangenen Jahre angehäufte finanzielle Reserven klafft drei Jahre später ein grosses Loch in der Kasse. Als im Verlauf des letzten Jahres vermehrt Tische unbesetzt bleiben, wird die Lage kritisch, nur dank des unermüdlichen Einsatzes der Vorstandsmitglieder Marco Denoth und Germaine Schüepp überlebt das Boy. Dass es um die SP-Stammbeiz finanziell schlecht steht, liegt nicht nur an Corona: «Wir hatten in den letzten Jahren qualitative Probleme im Personal, zu wenig Abwechslung in der Karte und schlicht zu wenig Umsatz», bilanziert Vorstandspräsident und SP-Nationalratskandidat Marco Denoth. Küchenchef Roman Wyss findet eindeutigere Worte: «Die Geschäftsführung war teilweise nicht nur schlecht, sondern katastrophal. Einige Stammgäste haben sich nicht mehr willkommen gefühlt, und viele von ihnen sind nicht mehr regelmässig vorbeigekommen.» Schuld an den Fehlbesetzungen sei aber nicht die Genossenschaft. Es gebe einfach einen Mangel an guten Gastgeber:innen in der Gastrobranche. 

Regionalradikal

Jetzt hat das Café Boy aber einen gefunden. Einen Gastgeber mit Herzblut und Erfahrung, der dem Restaurant ein Gesicht gibt und es in ruhigere Gewässer manövrieren soll: Michael Masetta. Zusammen mit KüSche Wyss bildet der 41-Jährige Stäfner seit Mitte August die Geschäftsleitung des Boy. Masetta ist kein unbeschriebenes Blatt: Er arbeitet seit über 20 Jahren in der Gastronomie und der Hotellerie, auf seinem CV stehen leitende Positionen im Wollishofer «Bürgli», dem La Réserve Eden au Lac oder zuletzt im Neuen Schloss in der Enge. Ein drastischer Wechsel, so von der Fünfsterneküche in die Quartierbeiz. «Die Luxushotellerie ist mir verleidet», sagt Masetta. Und auch wenn das Preissegment im Café Boy tiefer sei: «Die Qualität der Produkte ist es nicht.» Diese seien radikal-regional, marktfrisch, hausgemacht. «Bei uns gibt es keine Erdbeeren im Winter.» Aber es gibt Bio-Forellen aus Bachs und Schnaps vom Quartierhof Wynegg, die Spaghetti macht Nachbar Ludi, der einen Delikatessenladen betreibt und der Rotpunktverlag hat im Boy eine kleine Bibliothek eingerichtet. Mit Wyss hat Masetta die Weinkarte erneuert, das Menu erweitert und Wochenspezialitäten ausgearbeitet.

«Im Café Boy sollen sich alle willkommen fühlen», findet Masetta. «Natürlich ist und bleibt die politische Geschichte des Hauses wichtig, aber eine reine Parteibeiz kann nicht überleben. Es muss für alle etwas dabei sein.» Auch aus diesem Grund ist die Küche im Boy bodenständig: Es gibt Rauchspeckplättli, das berühmte Siedfleisch Boy (immer wieder anders) oder srilankesisches Gemüsecurry. Und zum Dessert ein Schoggibrownie mit Vanilleglacé oder Käse aus dem Bündnerland. Ausserdem sei die währschafte Küche trendbeständiger und langfristig dankbarer, sagt Masetta. «Eigentlich haben wir doch alle ein Cordon bleu am liebsten – zumindest diejenigen, die Fleisch essen.»

Überambitioniert?

So weit, so fein. Aber lässt sich denn mit dieser radikalen Regionalität und sozialdemokratischem Wirtschaften überhaupt noch ein Restaurant im Trendquartier ums Lochergut über Wasser halten? Vorstandspräsident Denoth gibt zu: «Das ist schon brutal schwierig.» Auch weil man als Genossenschaft den Anspruch habe, allen aus der Partei etwas zu essen und zu trinken anbieten zu können. «Wenn wir das regionale Konzept radikal durchsetzen wollen, sind wir möglicherweise auf finanzielle Unterstützung angewiesen», so Denoth. Diese habe das Boy zwar dank der Genossenschafter:innen und der Liquiditätsüberbrückung gehabt, das Ziel wäre aber, dass das Restaurant in Zukunft auf eigenen Füssen stehen könne. «Und vielleicht müssen wir irgendwann das ‹radikal› streichen und beim Regionalen gewisse Abstriche machen, um langfristig weiterzubestehen.» Die andere Möglichkeit wäre, die Preise anzuheben. Findet auch Geschäftsführer Michi Masettta: «Wir sind noch immer eines der günstigsten Lokale im Kreis 4, in einigen Bereichen wohl zu günstig.» Spätestens, wenn im Januar die Mehrwertsteuer angehoben wird, werde es wohl unumgänglich sein, die Preise leicht anzuheben. 

Ein Wendepunkt im Schicksal des Boy könnte der 28. September gewesen sein, als die Interventionseinheit Skorpion das Haus an der Kochstrasse umstellte – nicht, um eine subversive Jugendbewegung festzunageln, aber, weil Alain Berset im Rahmen seiner Bundesrats-Abschiedstournee vorbeikam. Zahlreich strömten Interessierte hinein, um Berset beim Revuepassierenlassen der letzten elf Jahre zuzuhören, fast zu zahlreich: Im Publikum kam es zu einigen laut flüsternd ausgetragenen Gehässigkeiten zwischen Alteingesessenen an den Tischen und Neuankömmlingen, die den Alteingesessenen die Sicht auf den Bundespräsidenten versperrten. Masetta freuts: «Ich denke, dieser Event hat einigen Leuten in Erinnerung gerufen, dass es uns gibt.»

An welchen Stellschrauben noch wie fest gedreht werden muss, wird sich bis zum Ende des Jahres zeigen. Tätschmeister Michi ist aber sicher: Mit dem Erfolgsrezept der «unschlagbaren» Lage, regionalen, guten Küche, der neuen Geschäftsführung und den alten Stammgästen kommts gut mit dem Boy. Und immerhin ein Teil der Stammgäste komme seit Mitte August wieder regelmässiger. «Das ist das Wichtigste.»

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