Füllhorn

Ein roter Faden verknüpft Traum und Unterwelt, Historie und Perspektivlosigkeit zu einem symbolhaften Märchen.

Fanfarenklänge entreissen den verdreckten jungen Mann seinem Schlummer, in dem sich der rote Faden vom Strickkleid seiner ewigen Angebeteten in der Erde verhakt hatte und nun eine Spur legt. Als ihn ein fliegender Händler auf seinen strengen Geruch hinweist, fährt er aus der Haut und die gesamte restliche Gesellschaft verschwindet in den Abteilen des Seitengangwaggons. Dem unwillentlichen, aufsässigen Empfang gibt er sich nach Einsicht seiner Wehrlosigkeit hin und lässt sich in einen Strudel zirzensisch-karnevalesker Ausgelassenheit ziehen. Die Kamera wechselt zwischen grobem Korn und brillanter Schärfe, derweil sich Gewissheiten noch gar keine festsetzen konnten. Arthur (Josh O’Connor), so wird sich in Alice Rohrwachers «La Chimera» zusehends herausstellen, verfügt über ein gefragte Gabe. Weil sich diese versilbern lässt, gerät der eben aus der Haft entlassene arme Schlucker nur ein Mal in Versuchung einer moralischen Tat. Seine Not bleibt dieselbe. So verdingt er sich bei der nächst weniger armen Räuberbande erneut. Im zerfallenen Palazzo der Signora Flora (Isabella Rossellini), für die er als ehemals Verlobter der verschwundenen Tochter Beniamina (Yile Yara Vianello) als Projektor dient, in ihrer Vergangenheitssehnsucht verhaftet leben zu bleiben, trifft ihn der Bannstrahl der Zuneigung zu deren Hausmagd Italia (Carol Duarte). Sie wird in ihrer aufrichtigen Unbekümmertheit zur zentralen Erzählfigur, weil ihre schrittweisen Entdeckungen von Zusammenhängen zeitgleich die inhaltlichen Offenbarungen für das Publikum werden. Mehrfach dargeboten in regelrecht theatral-plastisch anmutenden Erzählgesängen. Die anfänglichen Zweifel, ob Arthur jemals überhaupt aus seinem Traum erwacht ist, sind längst eine verzückte Verwunderung über die scheinbar ausufernd weiten Erzählschlenker gewichen, die Alice Rohrwacher gewitzt nutzt, um eine umfassendst mögliche Geschichte zu weben. Darin reklamiert etwa das Raubgut mit seinem kulturellen Hintergrund der Etrusker einen ebenso wichtigen Platz, wie die Wahl der Filmörtlichkeiten, die den Umgang mit dem ehedem unerwünschten Auswärtigen mit landverschandelnden Fortschrittskathedralen in eine Relation zueinander setzen. Oder Klischees wie das Zankrudel von Signora Floras Töchtern mit Tragödien wie Italias im Versteckten aufwachsen müssenden Kindern. «La Chimera» ist ein assoziatives Füllhorn, das intuitiv als ein umfassendes politisches Gesellschaftsbild erfahrbar wird und trotz verbreiteter Misere das Leben um des Lebens Willen feiert.

«La Chimera» spielt in den Kinos Houdini, Movie.

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