Aussersihler Kinogeschichten

Kein Stadtquartier ausserhalb der Innenstadt blickt auf eine so lange Kinogeschichte zurück wie Aussersihl. Vier Kinos haben letzten Freitag zu einer «Nacht der lebenden Kinos» eingeladen; mit über 300 Kino-Fans wurde daraus eine «Kultur-Demo» auf der Langstrasse, mit wehmütigem Abschied vom Traditionskino Uto. Diese Woche hat der Quartierverein auf seiner ortsgeschichtlichen Website neu das Kapitel «Kinogeschichte» aufgeschaltet.

Die Einladung zur «Feier der lebendigsten Kinomeile der Stadt Zürich» hat eingeschlagen. Trotz Regen blieben die Schirme geschlossen, niemand wollte den andern den Blick auf die Hauswand verdecken, auf die das Künstler:innenkollektiv «A Wall is a Screen» Kurzfilme projizierte. Das Kollektiv organisiert in verschiedenen Städten Europas Stadtspaziergänge, die die Lust am gemeinsamen Filmerlebnis beleben wollen. In einer Zeit, in der weitherum das Kinosterben beklagt wird, ist es für uns Aussersihler eine Ehre, von diesen internationalen Kino-Enthusiasten als Austragungsort dieses Filmevents auserkoren worden zu sein. Für die lokale Organisation des Anlasses waren die Kinos Riffraff, Houdini, Xenix und Uto verantwortlich.

Die bewegte Kulturgeschichte der bewegten Bilder

1907 wird ein Meilenstein in der Kinogeschichte gesetzt: Die Pariser Firma Pathé eröffnet einen Film-Verleih. Filmkopien müssen nicht mehr gekauft, sondern können gemietet werden. Die Folge ist ein rasanter Kino-Boom in den Städten Europas. In Zürich werden im gleichen Jahr zwei Säle eröffnet: An der Löwenstrasse und das Radium an der Mühlegasse. Schon zwei Jahre später gehen weitere zwei «Lichtspiel-Theater» auf, nun in Aussersihl: Das «Wunderland» an der Militärstrasse 111 und das «Sihlbrüggli» an der Badenerstrasse 9. Dieses zeigte nach den ersten Pionier-Jahren mit klamaukigen Kurzfilmen – «Der Elefant als Turner» – von den 1930er-Jahren an vor allem italienische Filme, bis es dann 1982 als Sexkino dem Umbau des Hauses zum Opfer fällt. Aber schon vor dem Siegeszug der Kinosäle bekommt Aussersihl die Gelegenheit, das neue Medium der bewegten Bilder kennen zu lernen: 1897 gastiert das Wanderkino des Schaustellers Philipp Leilich, ein Zürcher, der in ganz Europa auf Tournée ist, auf der Rotwandwiese, gleich vis-à-vis vom heutigen Xenix.

Die ersten Kinos sind bescheiden: Von der Strasse her betritt man ein kleines Kassen-Kabäuschen. Von da geht es direkt in den Vorführraum; im Sihlbrüggli befindet sich der Eingang in den Saal unter der Leinwand: Niemand kommt da ungesehen zu seinem Platz. Im Roland liegen die Toilettentüren neben der Leinwand: für alle ist sichtbar, wem das dramatische Filmgeschehen auf die Blase drückt. In einer Nische neben den Sitzreihen steht in den kleinen Kinos ein Klavier für die Filmmusik, die Filme sind ja noch stumm.

Kinosäle gehen auf und zu

In den 1920er-Jahren werden in vielen Stadtquartieren Kinos eröffnet: In Oerlikon, Altstetten, Wiedikon, Wollishofen, im Seefeld, an der Nordbrücke. Auffällig: In den Quartieren der Gutsituierten, in Hottingen, Fluntern, Enge, sucht man vergebens ein Kino. Ab Mitte der 1960er-Jahre verschwinden die Quartierkinos wieder. Nur in Aussersihl können sie sich nicht nur halten, da gehen sogar einige neue Säle auf.

Zum Beispiel das Xenix («(ich) gsee nix»), ein Unikum in der Zürcher Kino-Landschaft. Seine Anfänge sind stürmisch: Gegründet wurde das Xenix von Film-Freaks im Autonomen Jugendzentrum AJZ im bewegten Jahr 1980. Danach ging es vier Jahre auf Wanderschaft in besetzten Häusern und landete 1984 in der 1904 erstellten ehemaligen Kindergartenbaracke im Areal des damaligen Quartierzentrums Kanzlei. Nach dessen Schliessung kann es hier bis heute überleben und setzt mit seinem exklusiven, sorgfältig kuratierten thematischen Programm einen eigenen Akzent in der Zürcher Filmkultur. Auch Riffraff und Houdini, gegründet 1998 und 2014, widerlegen die Klage vom Kinosterben. 

Der grösste Verlust in Aussersihl ist das Ende einer der grössten und modernsten Kinosäle der Schweiz: Das Apollo, 1928 eröffnet mit 1700 Plätzen und einem Foyer, angepriesen als «ein vornehmer, gediegener Raum, geschaffen zum Plaudern, Promenieren und Rauchen während den Pausen», heute eine unverzichtbare Cashcow für den Kinobetreiber. 1988 muss das Apollo dem heutigen Bürogebäude weichen. Das legendäre Riesenkino verabschiedet sich mit der «Rocky Horror Picture Show» und einem Trauerzug der Gäste aus dem nahegelegenen Quartierzentrum Kanzlei unter den Klängen von Ravels Bolero. Und nun ist das Uto an der Reihe. Die  Demoteilnehmer verabschieden sich von ihm in der Nacht der lebenden Kinos mit langem Klatschen.

Seit dem 20. März kann auf der Website kreis4unterwegs.ch im neuen Kapitel «Kinos/ Lichtspieltheater» die Geschichte der Aussersihler Kinos nachgelesen werden.

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