Winternest, Oase, aussterbende Art

Das alte Haus an der Köchlistrasse 5/7 hat vieles schon erlebt. Das zeigte am vergangenen Wochenende eine Ausstellung dessen Besetzer:innen, die mit ihr Abschied von ihrem Zuhause nehmen.

Dieses Haus ist alt und hässlich
Dieses Haus ist kahl und leer
Denn seit 2022 zahlt dort niemand Miete mehr

An der Köchlistrasse 5/7 steht ein letzter verwinkelter Zeitzeuge. Noch. Ein dreistöckiges, he­runtergekommenes Arbeiterhaus, in zwei Teilen 1881 und 1897 gebaut, mit verschmierter Fassade, engen Zimmern und totem Efeu an den Wänden. Oder ein Kleinod, zweckmässig aber charmant, der VW Käfer unter den Häusern? Es wäre ein VW Käfer, an dem über die Jahre ständig he­rumgebaut und -gebastelt wurde. Der Anbau mit Flachdach, damit man dort Wäsche aufhängen kann, der 1950er-Jahre-Ladeneinbau mit Travertinverkleidung als günstige Aufwertung der Fassade. Das pralle Leben. «Wären wir ein rührseligeres Volk, würden wir sagen, ‹Halt, Übung abbrechen, das wird authentisch renoviert›», sagt Architekt Heinz Oeschger. Aber in Zürich sei das Träumerei. 

Seit dem 23. Dezember 2022 ist das Gebäude besetzt. «Wir freuen uns auf ein warmes Winternest mit karamelisierten Nüssen, ätherischen Fussbädern und keiner Polizei», liessen die Besetzer:innen damals verlauten. Rund 15 Personen zwischen 20 und 50 leben in den neun 3-Zimmer-Wohnungen, im Keller befindet sich ein Bar- und Konzertraum. Auch wenn lokale Punkbands dort auftreten, ahnt davon nichts, wer der Köchlistrasse entlangläuft. Die Besetzer:innen haben zur Schallisolation «jede Ritze» mit Sand gefüllt. Eine «eigene Nische», ein «wertfreier Raum, weg vom Konsumwahn» hätten sie hier geschaffen. Doch das Winternest muss einem Neubau weichen. 

Dieses Haus ist halb verfallen
Und es knarrt und stöhnt und weint
Dieses Haus ist doch viel schöner als es scheint

Noch dieses Jahr plant die Hausbesitzerin Wogeno den Abbruch der Köchlistrasse 5/7. Das Architekturbüro Loeliger Strub titulierte seinen Entwurf beim Projektwettbewerb 2018 «Wo Wo Wogeno» und erhielt damit den Zuschlag für den Ersatzneubau – einstimmig. Für die Besetzer:innen des Hauses mutet der Slogan höhnisch an, geradezu dreist. Die Wogeno, die ihre Wurzeln in der politischen Bewegung der 1980er-Jahre hat, habe ihre einstigen Werte über den Haufen geworfen, sagen sie. Das Gespür für Essenzielles sei ihnen abhandengekommen. Verdichtung, Gentrifizierung und «Alternativwashing» statt echter Nachhaltigkeit seien das neue Credo der Genossenschaft. Gebaut wird trotzdem. Und zwar zehn 2-5-Zimmer-Wohnungen mit Mietzins zwischen 1520 und 2870 Franken sowie Gewerbefläche für monatlich 3400 Franken. Der Entwurf verwebe die an der Strasse vorhandenen Bautypologien miteinander, und zwar mittels «in den Strassenraum auskragender Erker, lukarnenartiger Dachaufbauten, französischer Fenster, Band- und Eckfenster», liest man auf der Wogeno-Website. Was man nicht liest: Alle dem Ersatzneubau zugewandten Fenster an der Köchlistrasse 3 (die auch der Wogeno gehört), werden bis 2025 zugemauert, da die beiden Gebäude aneinandergebaut werden. 

Das alte Haus an der Köchlistrasse sah Angst und Pein und Not
Es freut sich jeden Abend aufs neue Morgenrot

Die Wohnung im Hochparterre der Köchlistrasse 7 ist dieser Tage grösstenteils leergeräumt. Nicht, dass die Besetzer:innen bereits ihren Auszug für den 30. Mai vorbereiten – deren Planungen bleiben vorerst flexibel und spontan – sondern um das Haus zu verabschieden. Und zwar mit einer «Ausstellung (keine Kunst) zu Ereignissen an der Köchlistrasse von früher bis heute», wie die Veranstaltung auf Flyern recht nüchtern beschrieben wird. Die kleine Bar beim Eingang steht noch, ebenso die Küche mit drei  Suppentöpfen (Linsen, Gersten, Kichererbsen) auf dem Herd für die Besucher:innen, dazwischen verteilt ein paar wenige Stühle. Setzt man sich auf einen von ihnen, kann man mit etwas zerzausten Kopfhörern auf in die Jahre gekommenen Bildschirmen einem historischen Medienspiegel über die Köchlistrasse zuhören und/oder -sehen. Beiträge aus dem Regionaljournal Zürich-Schaffhausen aus den 1990er-Jahren zum Beispiel, Dokumentarfilme über die Jugendunruhen oder Musikvideos, die an dieser Quartierstrasse gedreht wurden. Die meiste Zeit verbringt man beim Besuch der Ausstellung allerdings stehend, die Augen nah an die Wand geschmiegt. Hunderte in teilweise winziger Schrift bedruckte Papierfetzen, Zeitungsausschnitte, Bilder und Baupläne zieren dicht gedrängt das Mauerwerk der Wohnung, wie ein labyrinthartiges Wimmelbild der Vergangenheit. Es sind zu viele, um sie alle zu lesen, doch sie erzählen mosaikartig die Geschichte der Köchlistrasse. Dass sie vermutlich nach Kaspar Köchli (1811-1887, Landwirt, wohnhaft an der Badenerstrasse 186, möglicherweise Grundbesitzer im Quartier), benannt wurde, erfährt man. Daneben hängt ein Bild der Formel-1-Legende Jo Siffert, der, umringt von männlichen Groupies, an der Hausnummer 15 in seinem Boliden sitzt. Auch Alltägliches ist an die Wände gekleistert: Ein Inserat für eine wenig gebrauchte Waschmaschine (Roburger, billig) aus dem Jahr 1908. Eine Werbung der Konserven- und Fleischeinfuhrgenossenschaft (Argentinische Konserven, Mailänder Salami, Bündner Bindenfleisch), die an der Köchlistrasse 1927 eine Filiale eröffnet hatte. Oder eine für erotische Massagen an der Hausnummer 27a aus den 2000ern. Kurzmeldungen über einen Arbeitsunfall eines Garagisten (beim Aufpumpen eines Lastwagenpneus habe sich bei 5 Atü der Klemmring des Pneus gelöst und ihn am Kopf getroffen – Schädelbruch) und eine Gasexplosion im Restaurant Köchlistube im Jahr 1962. 

Den grössten Teil der Ausstellungsfläche nimmt allerdings der Kampf ein. Der Kampf des Männertreffs Conti gegen das Tanzverbot für Männer und das Homosexuellenregister, der Kampf, die Quartierstrasse in eine Wohnstrasse aufzuwerten, den die kurzlebige Köchli-Ziitig führte. Fotos von rauchenden Irokesen und pointierten Plakaten («Die Köchin kocht weiter») an der besetzten Hausnummer 22 im Kampf gegen die Wohnungsnot, dann Bilder von Polizeihelmen und Wasserwerfern: «Köchlistrasse geräumt – Refugium bedroht!». Und nicht zuletzt zeigen die ausgestellten Fragmentarien den Kampf gegen den Abriss der Köchlistrasse 7, der 2020 verloren ging, als ein Rekurs aus Kreisen der Anwohner:innenschaft vom Baurekurs- sowie vom Verwaltungsgericht abgelehnt wurden.

Dieses Haus will ich bewohnen, komm‘ vom Wandern ich zurück
Denn das Haus ist voller Wunder und voll heimlicher Musik

Einige der Nachbar:innen, die damals Rekurs einreichten, sind am Sonntagabend zum Schlussbouquet der Ausstellung gekommen. Sie seien regelmässig hier, sagen sie, fühlen sich an der Köchlistrasse 7 zuhause. Für sie, die in den 1980er-Jahren selbst in besetzten Häusern gelebt haben, ist der Ort Quartierzentrum und Zeitkapsel zugleich. «Und jetzt wird diese ganze Geschichte ausradiert», sagt eine von ihnen mit belegter Stimme. Ausser der Nachbar:innen schlendert um 9 Uhr Abends niemand mehr durch die Gänge der Parterrewohnung. Die Stimmung ist im Keller – wortwörtlich: Einen Stock weiter unten, in der mit Töggelikasten, Discokugeln und Unmengen an Plakaten eingerichteten Bar tritt nämlich gerade die Band Robertson-Head-Music-Machine auf. Sie spielen etwas zwischen Country und Blues, und zwar gut. Das Publikum, das von Gen Z bis zu Bewohner:innen der benachbarten Alterswohnungen reicht, klatscht und tanzt (wenn auch etwas besonnener als in den 80ern) und trinkt und raucht. Als das Set beendet ist, füllt wieder Punk aus der Dose den Raum, und draussen klingt ein «Danke, dass es euch gibt» der Anwohner:innen an die Besetzer:innen in die Nacht. Es ist ein Abschied, der zeigt: Die Erinnerungen an die Köchlistrasse werden auch nach dem Ende der Ausstellung weiterleben.

Alle Sterne hör‘ ich singen und die Schatten am Kamin
Leiten zu den Träumen meiner Jugend hin

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