Atomkraft? Nein danke!

Ein altmodischer Wälzer mit vielen Fotos und einer Chronologie des Widerstands gegen AKW in Deutschland? Wer wissen will, weshalb uns dieses Buch heute noch – oder: heute erst recht! – interessieren muss, liest am besten gleich los.

50 Jahre Anti-AKW-Bewegung in Deutschland zwischen zwei Buchdeckeln, herausgegeben von .ausgestrahlt, der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg und vom Göttinger Arbeitskreis gegen Atomenergie. Der Untertitel lautet, «50 Jahre Anti-AKW-Bewegung. Eine Geschichte erfolgreichen Widerstands». Und der Titel? «Atomkraft nein danke!», ist doch klar…

Das Buch ist gross, anständig gebunden, ein richtiger Wälzer. Und damit zum Inhalt: Unbedingt erst nur durchblättern und gucken! All die vielen Fotos von Günter Zint und anderen, schwarzweiss und farbig, von Demos, grossen Polizeiaufgeboten, Flyern, Plakaten, Menschenketten, Platzbesetzungen, Traktorentrecks, Atommüllfässerberg-Inszenierungen und und und… da lohnt sich mehr als ein Blick darauf. Dies nicht zuletzt, weil all die Bilder natürlich nicht einfach so eingefügt sind: Sie bilden den grössten Teil des längsten Kapitels, es heisst «Chronologie des Widerstands 1971–2022», erstreckt sich von Seite 34 bis Seite 194, und dessen Autor, Reimar Paul, nimmt es genau. Auch wenn er als Folge davon auf einen hübschen Reim verzichten muss… Zum Beispiel so: «Die Wiege der Anti-AKW-Bewegung, sagen viele, stand in Wyhl. Das stimmt nicht ganz. Denn bevor das Dorf am Kaiserstuhl Anfang 1975 durch Massenproteste gegen das dort geplante Atomkraftwerk auch bundesweit für Schlagzeilen sorgte, hatten Bürger und widerspenstige Kommunalpolitiker bereits im benachbarten Breisach ein AKW verhindert.» Also nicht einfach «Wiege in Wyhl»…

Von der Geschichte …

Nach den Bildern zum Text: Wer soll das alles lesen? Ist das nicht nur für jene interessant, die, ob länger, kürzer oder nur für eine einzelne Demo, dabei waren? Die Antwort ist Nein, und das hat auch mit den diversen Einsprengseln zu tun, die entweder «Brennpunkt» heissen und einen solchen beleuchten, oder auch kurze Portraits sein können von Menschen, die wichtig waren für die Bewegung – vom «Mahner vor dem Atomstaat» Robert Jungk über «die Frau vor der Polizeikette» Marianne Fritzen und Walter Mossmann, den «Barden der Bewegung», bis zu Karin Wurzbacher, der «Mutter gegen Atomkraft». Oder, nun nach dem Jahr 2000, von Günter Zint, dem «Chronisten der Bewegung, über Christa Kuhl, die «Bewahrerin der Schöpfung», bis zu Jochen Stay, dem «Gesicht von ‹.ausgestrahlt›». Von den «Brennpunkten» befasst sich übrigens auch je einer mit Österreich und der Schweiz. In Letzterem findet sich eine kurze, präzise Zusammenfassung von den ersten Aktionen gegen das schliesslich nicht gebaute AKW Kaiseraugst bis zur «deutlichen Mehrheit», die am 21. Mai 2017 die Energiestrategie 2050 annahm und damit auch das Verbot, neue AKW zu bauen.

… in die Zukunft

Gut 50 Jahre hat es also gedauert, bis in Deutschland die letzten AKW stillgelegt wurden. Auf den Rückblick allein konzentrieren sich die Autor:innen aber nicht. Nach der ausführlichen Chronologie folgen noch weitere spannende Kapitel. Wolfgang Ehmke beispielsweise erzählt unter dem Titel «Der Gorleben-Konflikt: Geschichte wird gemacht» diese über 45 Jahre Widerstandsgeschichte «‹von hinten›, als Erfolgsgeschichte»: «Denn am 28. September 2020 wurde der Salzstock Gorleben-Rambow bei der neu gestarteten Endlagersuche schon im ersten Vergleichsschritt aussortiert. Wissenschaftsbasiert, aus geologischen Gründen»… Zu Gorleben beziehungsweise zur letzten kulturellen Widerstandspartie am 3. Juni 2022, mit der das Ausscheiden des Gorlebener Salzstocks bei der Endlagersuche gefeiert wurde, enthält das Buch eine eigene, 16-seitige Beilage.

Über den «Lohn des langen Atems» erfahren die Leser:innen noch mehr im Interview mit dem Bewegungsforscher Dieter Rucht. Aber auch andere Aspekte der langen Widerstandsgeschichte beleuchtet das Buch, so etwa Bernward Janzing im Kapitel «Rebellen auf dem Strommark. Schönau und die anderen – der Siegeszug der erneuerbaren Enerigen»: Eine kleine Gruppe Eltern aus dem Südschwarzwald findet sich nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 zusammen, bald stossen der Schönauer Landarzt Michael Sladek und dessen Frau Ursula dazu: «Handeln vor Ort wird nun zum Credo. Im Januar 1988 präsentiert die Gruppe ihren ersten Stromsparwettbewerb, hält Vorträge, macht Infostände.» Das eine führt zum anderen, und schliesslich stimmen 52,4 Prozent der Schönauer:innen – bei einer Beteiligung von 84,3 Prozent – dafür, dass das Bürgerunternehmen Elektrizitätswerke Schönau das Netz der Kleinstadt übernimmt, um sie so «von Atomstrom zu befreien»…

In Angela Wolffs Text mit dem Titel «Die Untergangstechnologie. Die Klimakrise als Rettungsanker für die internationale Atomgemeinschaft?» wird es schliesslich noch topaktuell: «Der Umstand, dass die nukleare Stromerzeugung deutlich weniger Treibhausgase verursacht als fossile Brennstoffe, bedeutet nicht, dass Atomkraft klimafreundlich wäre oder gar die Lösung für die Klimakrise. Die Atomlobby argumentiert bewusst verkürzt, wenn sie die Nuklearindustrie als angeblichen ‹Klimaretter› postuliert.» Fazit: Ein ebenso schönes wie nützliches Buch, sehr zu empfehlen.

 

Atomkraft nein danke! 50 Jahre Anti-AKW-Bewegung. Eine Geschichte erfolgreichen Widerstands. Mit Beilage zur letzten kulturellen Widerstandspartie am 3. Juni 2022. Herausgegeben von der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, .ausgestrahlt, Göttinger Arbeitskreis gegen Atomenergie. Mit über 480 Fotos von Günter Zint u.a., Ökobuch Verlag GmbH, Rastede 2022, 272 Seiten, ca. 37.90 Franken.

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