Aperitif und Abgrund

Wir waren eine mittelgrosse Runde am Aperitif. Wir kannten uns am Rande, einige besser, andere gar nicht. Nach dem Anstossen und zweimaligem kurzem Nippen am Weissweinglas hatte sich unser Gespräch so beeindruckend schnell wie zielstrebig auf ein Thema hinbewegt: den Zweiten Weltkrieg. Smalltalk ist eine Kunst und eine heikle Sache obendrein, ich weiss. Bestimmte Themen soll man unbedingt meiden, wird empfohlen, so die Politik, Religion, überhaupt alles, was starke und emotionale Meinungen provozieren oder die Stimmung nachhaltig schädigen könnte. Unsere Runde kümmerte das wenig, sie hatte ganz offensichtlich anderes im Sinn. Und so geschah es, dass mich dieser kleine Aperitif ganz unerwartet an den Rand eines Abgrunds brachte, wo ich noch immer stehe.

 

Wir sprachen also über den Zweiten Weltkrieg und der Zufall wollte es, dass da Menschen dabei waren, deren Grossvater als deutscher Soldat bis kurz vor Stalingrad und danach in amerikanische Gefangenschaft geraten und andere, deren Grossvater- und Grossmuttergeneration in Lagern ums Leben gekommen war. Ich stand da, unverhofft zwischen Enkelinnen damaliger Täter und Opfer und sagte diesen einen Satz, den ich bei diesem Thema immer wieder von mir gebe: «Also ich getraue mich nicht mit Sicherheit zu sagen, zu welcher Sorte Mensch ich damals gehört hätte! Zu den Widerständigen oder den Schweigenden, da würde ich also die Hand nicht für mich ins Feuer legen.» Wie immer erntete ich zustimmendes Nicken, diese Aussage erfreute sich seit je eines grossen gesellschaftlichen Konsenses.

 

Soviel Zustimmung bettet einen sonst ja ganz komfortabel, aber das Nicken half plötzlich alles nichts, mit einem Mal schien mir dieser Satz ganz furchtbar dumm und ich schämte mich dermassen, dass ich es mit der Angst zu tun bekam. Ein Abgrund tat sich vor mir auf. 

Wie soll ich es erklären. Zu sagen, dass man ein Mensch ist, von dem im Guten wie –  vor allem – im Schlechten grundsätzlich alles zu erwarten ist, ist an sich nicht falsch. Allerdings, und dessen wurde ich mir tatsächlich zum ersten Mal bewusst, ist es ja auch nicht mehr oder weniger als eine eher laue Entschuldigung dafür, dass man nichts tut oder nichts getan hat. Der Mensch ist halt schlecht, ich bin es auch, das liegt in der Natur von uns allen, aber indem ich es erkenne und benenne, bin ich immerhin etwas selbstkritisch und dadurch weniger schlecht. Es kam mir so dumm vor. Zweitens ist es so, dass der Satz vorgibt, einen hypothetischen Zustand zu beschreiben. Wie hätte ich damals reagiert? Und wie würde ich reagieren, wenn wieder einmal staatlich verordnet Menschen systematisch umgebracht werden? Das Problem: Es ist nicht hypothetisch, es passiert. Menschen ertrinken gerade jetzt im Mittelmeer. Sie ertrinken, weil die sicheren Fluchtrouten geschlossen sind. Sie sind geschlossen, weil man es so will. Staatlich verordnet. Und während damals Menschen oft einfach aus Angst vor den Konsequenzen das Furchtbare nicht bekämpften, schweigen wir jetzt auch – aber warum genau? Warum tue ich nichts, obwohl ich gar nichts zu befürchten hätte?

 

Mir ging einiges durch den Kopf an diesem Abend. Geblieben ist dieser Abgrund, die Vorstellung, dass meine Grosskinder einmal in ähnlicher Runde bei einem Aperitif anstossen und ganz unverhofft und bemerkenswert schnell auf die jetzige Zeit zu sprechen kommen. Dass sie und die anderen Enkelinnen und Enkel von Tätern und Opfern dieser Jahre sind. Und dass ich im Moment nicht weiss, zu wem sie sich dereinst werden zählen müssen. 

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.