«Antisemitismus ist bei allen Extremismusformen zu finden»

In den letzten Tagen und Wochen ist das Thema Extremismus und Gewalt bei Jugendlichen in der medialen Aufmerksamkeit stark gestiegen. Die Winterthurer Fachstelle Extremismus und Gewaltprävention ist eine der profiliertesten dieser Fachstellen. Sie hat kürzlich ihren Tätigkeitsbericht für die letzten Jahre veröffentlicht. Matthias Erzinger hat sich mit Serena Gut, der Leiterin der Fachstelle, über ihre Tätigkeit unterhalten. 

Frau Gut, Extremismus und Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen haben immer wieder eine hohe mediale Aufmerksamkeit, danach wieder weniger. Spüren Sie dieses Auf und Ab auch in Ihrer Arbeit? Wie beurteilen Sie aktuell die Extremismus-Situation?

Grundsätzlich sind wir nicht für die Beobachtung von Extremismus-Szenen zuständig, dafür sind die Sicherheitsorgane zuständig. Aber natürlich besteht ein gewisser Zusammenhang. Wir stellen fest, dass wir seit 2016 eine relativ konstante Anzahl von Anfragen haben. Einen Schwerpunkt bildet seither der Islamismus und die damit verbundenen Anfragen. Seit Corona stellen wir fest, dass neue Extremismusformen auftauchen, die stark von den Verschwörungsmythen auf den Sozialen Medien geprägt sind. Impfgegner, libertäres Gedankengut, etc. Da werden baukastenmässig eigene Ideologien neu zusammengebaut.

Der islamische Extremismus war in den letzten zwei, drei Jahren auch in Winterthur öffentlich weniger ein Thema. Der IS war aus den Schlagzeilen verschwunden. War diese Ruhe trügerisch? 

Wie gesagt: Islamismus ist nach wie vor ein Schwerpunktthema. Ein grosser Teil der Anfragen bezieht sich darauf. Das ist aber teilweise auch aus der Geschichte unserer Fachstelle erklärbar, die in diesem Zusammenhang aufgebaut wurde.

Seit dem 7. Oktober 2023 ist auch ein «zunehmender linker Antisemitismus» ein Thema. Sind Sie in Ihrer Arbeit damit konfrontiert?

Generell ist linker Extremismus bei unserer Tätigkeit weniger ein Thema. Wir hatten bis anhin keine spezifischen Anfragen zu Antisemitismus. Antisemitismus ist aber ein Feindbild, das alle extremistischen Strömungen teilen.

Wie beurteilen Sie die Radikalisierung im rechten Spektrum? 

Die rechtsextreme Szene hat sich stark gewandelt. Rechtsextreme sind heute viel weniger an ihrem äusseren Erscheinungsbild erkennbar, sondern sie arbeiten über Social Media, mit Codes etc. Wir haben auch Anfragen zu Rechtsextremismus, aber ich gehe davon aus, dass betroffene Personen von Diskriminierung und Hatespeech sich vermehrt an entsprechende Fachstellen wenden und nicht zu uns kommen.

Sie arbeiten stark im präventiven Bereich. In der Politik gibt es immer wieder den Gegensatz zwischen Prävention und sicherheitsorientierten Massnahmen. 

Es ist immer schwierig auf der Gratwanderung zwischen dem Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft und der individuellen Meinungsfreiheit. Das Schwierige an Prävention ist, dass sie nicht messbar ist. Das wissen wir auch aus der Gesundheits- oder der Unfallprävention. Wir vermitteln Wissen, vernetzen und beraten. Wir spüren einen sehr grossen Rückhalt, gerade in Winterthur, wo Sicherheit und Prävention gut zusammenarbeiten. 

Für die Gewaltprävention ist Integration ein wesentlicher Faktor. Gegenwärtig ist aber eine, sagen wir mal «Integrationsmüdigkeit», in der Politik spürbar.

Wie stark man sich integriert fühlt, hat einen Einfluss auf die Möglichkeit einer Radikalisierung. Der Mensch möchte sich einer Gruppe zurechnen können, sucht ein «Wir-Gefühl». Wenn dieses von der Gesellschaft geschaffen werden kann, ist das positiv.

In Ihrem Handbuch «Radikalisierung in der Schweiz», das ihre Stelle zusammen mit ähnlichen Fachstellen herausgegeben hat, wurden auch Kriterien für die Arbeit und ein gewisser Orientierungsrahmen solcher Stellen definiert.

Durch die gemeinsam erarbeiteten Kriterien und den Orientierungsrahmen wurde ein Beitrag geleistet zur Professionalisierung. Generell ist der Austausch mit anderen Fachstellen intensiver geworden. Auch für uns wurde die Arbeit so professioneller, und wir sind aus dem Versuchsstadium herausgekommen. Die Tätigkeit ist so breiter abgestützt. 

Wo sehen Sie die kommenden Herausforderungen?

Immer wichtiger wird Medienkompetenz werden. Nicht nur im Bereich der Sozialen Medien, sondern generell. Inzwischen kann fast jede/r mittels KI irgendwelche überzeugenden Bilder kreieren. Wie können solche Fake-Bilder erkannt werden? Was steckt dahinter? Damit verbunden ist auch die immer wichtiger werdende Elternbildung in diesem Bereich. Wir müssen uns wahnsinnig stark am Zeitgeist orientieren, um auf neue Entwicklungen reagieren zu können oder sie allenfalls sogar vorausahnen zu können.

Sowohl der Tätigkeitsbericht der Fachstelle als auch das Handbuch «Radikalisierung in der Schweiz» sind verfügbar unter https://stadt.winterthur.ch/fseg/wissen

 

Zur Person

Serena Gut leitet seit Sommer 2021 die Fachstelle Extremismus und Gewaltprävention der Stadt Winterthur. Sie vermittelt Fachwissen zu Extremismus, führt das städtische Netzwerk Extremismus und Gewaltprävention und berät betroffene Angehörige.
Von 2019 bis 2021 baute sie beim Kanton Schaffhausen die Fach- und Beratungsstelle Radikalisierung und gewalttätiger Extremismus auf. Serena Gut hat an der Universität Zürich Soziologie, Sozialpädagogik und Politikwissenschaft studiert und arbeitete unter anderem mehrere Jahre als Projektleiterin in der Standortförderung sowie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Stadtentwicklung.

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.