An dieser Stelle #7: Und Dann kam Theresa

Ich heisse Theresa, sagte sie am Schluss dann noch, aber das wirst du ohnehin vergessen. Und sie lachte und ihre hellblauen Augen auch. Und natürlich werde ich das nun nie tun. Ich werde sie nie vergessen. Theresa aus Vicksburg, Mississippi.

Unser Jahr in den USA neigt sich dem Ende zu, und wir sind noch einige Tage unterwegs. Wir nennen es Roadtrip und fahren tief, tief in den Süden. Weil es immer gut ist, die eigene Blase gelegentlich zu verlassen. In meinem Fall ist das jene rund um das liberale Washington DC, in der unzählige «Black lives matter»-Schilder in den Vorgärten der weissen Nachbarschaft die Angestellten morgens freundlich begrüssen und daran erinnern, dass man findet, sie seien wichtig. 

Jetzt bin ich in Vicksburg. In dieser kleinen Stadt fand fast auf den Tag genau vor 160 Jahren, am 4. Juli 1863, die letzte Schlacht des Zweiten Vicksburg-Feldzugs statt, was ich auch nicht wusste, aber jetzt weiss ich es und auch, dass das heute als die entscheidende Schlacht des Amerikanischen Bürgerkriegs gilt. Die entscheidende Schlacht, die schliesslich dazu führte, dass die Union erhalten blieb und die Sklaverei verboten wurde. Heute sieht Vicksburg so aus, als hätte es sich von diesem Krieg nie richtig erholt. Dann kam Theresa, wir kamen ins Gespräch, sie wollte wissen, was wir in dieser vergessenen Gegend genau machen, woher wir sind und was wir vom hiesigen Schulsystem halten. Wir waren einig, dass Bildung in den USA kostet. Viel zu viel kostet. Dass die Menschen ihr College-Darlehen dann fast ein Leben lang in vielen Raten zurückzahlen müssen. Dass aber alle die gleichen Chancen haben sollten und die Schule überall im Land gleich gut sein müsste, ganz egal, in welcher Nachbarschaft man wohnt, ganz egal, ob man reich ist oder nicht. Das fand sie alles auch. Und sagte dann, als wäre es das normalste der Welt, «der aktuelle Präsident, obwohl man ihn so nicht nennen könne», wolle nun diese Schulden erlassen, was sie aber für völlig falsch halte. Wer lerne und hart arbeite, der könne auch ohne Darlehen studieren, so wie ihre Tochter, die 15 Stipendien offeriert bekommen habe. Fünfzehn, sagte sie und sah uns an, als wäre das der endgültige Beweis dafür, dass man alles erreichen kann, wenn man nur genug dafür tut. 

Dieses Land hat sich mir selten so erschlossen wie in diesem Moment. So komplett offenbart. Wie ich da stand mit dieser fremden Person, wie so viele Amerikaner:innen für unsereins fast unwirklich freundlich und offen, wie sie interessiert und unvoreingenommen unsere Meinung wissen wollte, sich im gleichen Moment als eine von jenen zu erkennen gab, die die Wahl Bidens als nicht legitim ansah, die zwar ein Schulsystem möchte, das allen gleichermassen Chancen gibt, dann aber doch der Meinung ist, man müsse es sich selber erarbeiten und der Staat dürfe nicht helfend eingreifen. Ich stand also da mit Theresa, in diesem gottverlassenen Vicksburg, am Mississippi, vor verklebten Schaufenstern ehemaliger Läden, ein Mahnmal insgesamt, nicht nur für den Bürgerkrieg, sondern auch für die ganze Geschichte seither und besonders auch für heute. 

Wenn ich mit Menschen hier rede, sind alle früher oder später mindestens in einem Punkt gleicher Meinung: das Land sei noch nie so polarisiert gewesen wie heute. Die Politik, der Hass, die unüberwindbaren politischen Differenzen, härter, krasser als je zuvor. Es hat mich von Anfang an nie richtig überzeugt, ohne dass ich hätte sagen können, warum. 

Als ich da so stand mit Theresa, wurde es mir mit einem Mal klar. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren noch nie wirklich vereint. Der Bürgerkrieg ist zwar längst vorbei, aber er hat eine Narbe hinterlassen, die da entlang des Mississippi in einer unsäglichen Hitze auf Schlachtfeldern und Civil-War-Denkmälern glüht, aber auch eine Narbe in den Menschen, die bis heute um gemeinsame, vereinigte Positionen ringen. 

Die Erzählung, dass diese Spannung, diese Zerreissprobe ein neues Phänomen sei, ist vielleicht das Einzige, was die Menschen zusammenhält. Sie scheint bisher aber stark genug, um wie ein zuverlässiger Kitt die Risse in der Gesellschaft immer wieder zu füllen.

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