Krieg den Alten

Natürlich sagt niemand einer 87-Jährigen, du bist zu langsam und zu unbeholfen, du kannst deinen Haushalt nicht mehr alleine führen. Und es sagt ihr auch keiner, sie sei schon etwas nachlässig in der Hygiene und benötige offensichtlich Unterstützung beim Duschen. Und schon gar nicht ist jemand so gemein zu sagen, dass das aber ganz schön teuer komme, mit all den Medikamenten, der Spitex, den Haushaltshilfen und so weiter. Oder dass es doch ein bisschen unverschämt sei, so ganz alleine in einer grossen Dreizimmerwohnung zu hausen.

 
Auch geht niemand so weit, den Frust darüber, dass sie immer noch lebt, rauszulassen und zarte Andeutungen zu machen, dass 87 doch ein sehr respektables Alter und kaum jemand in der Familie derart alt geworden sei, und sie dürfe doch auf ein erfülltes Leben zurückblicken, wohingegen doch die Gebrechen des Alters gewiss nicht einfach auszuhalten seien, und ja, man verstehe sehr gut, wenn da eine grosse Müdigkeit sei – und vielleicht auch ein kleines bisschen Lebenssattheit?

 
Nein, das sagt nun wirklich niemand. Das muss auch niemand. Die Alten sagen sich das ganz alleine und selber. Denn es wird ihnen suggeriert. Immer und immer wieder, und mehr denn je. Und nicht durch einzelne, sondern durch «das System». Es gibt kaum einen grösseren Fluch als den Systemzwang. Höchstens noch, dass Systemzwänge in den letzten Jahren zunehmend und systematisch bestritten werden, verneint, weggeredet. Es hat schon in den 80ern begonnen mit Margaret Thatchers Diktum, dass es so etwas wie eine Gesellschaft gar nicht gebe «and people must look after themselves first». Eigenverantwortlich, selbstbestimmt, seines eigenen Glückes Schmied, und damit natürlich auch selber schuld, wenn man arm werden sollte, arbeitslos, einsam, krank. Oder gar: alt.

 
Seither ist es einfacher geworden, systemische Zwänge, also Einschränkungen, welche durch Strukturen verursacht werden, nicht durch individuelle Handlungen, zu vernütigen. Systeme sind ja nur eine ideologische Erfindung, oder haben Sie schon jemals ein System dabei ertappt, wie es grad wieder einen armen Alten am Kragen packt? Eben. Nein, niemand sagt den Alten, dass sie unnütz sind, asozial oder zumindest nicht mehr benötigt in dieser Gesellschaft, die es ja eh nicht gibt. Sie merken es auch so, etwa, wenn sie an der Kasse eine lange Schlange verursachen oder wenn sie beim Zebrastreifen nur bis in die Mitte gelangen, bevor es rot wird, oder wenn sie es nicht schaffen, am SBB-Automaten ein Billet zu kaufen. Niemand wirft ihnen vor, dass sie Nutzniessende eines Grundeinkommens namens AHV sind. Es reicht ja zu sagen, dass dieses – leider! – zunehmend nicht mehr finanziert werden könne.

 
Und darum kommen die Alten ganz von alleine auf die Idee, sich von einer Klippe stürzen zu wollen, weil sie ja niemandem «zur Last fallen» wollen. Und weil, Scheisse nochmals, die Klippen auch nicht grad häufig vorkommen bei uns, ist es genau darum nur noch ein kleiner und logischer Schritt, dass wir Natriumpentobarbital freigeben, damit auch geistig fitte Leute, die eigentlich nicht wirklich leiden, höchstens am Wohnungsmarkt, an der Grünphase auf dem Zebrastreifen oder am Mangel an Ergänzungsleistungen, und die ob alledem etwas lebenssatt geworden sind – damit also auch sie frei und willig und unglaublich eigenverantwortlich in den Tod gehen und uns so ganz zuletzt noch einmal kräftig nützlich werden können.

 
Ich aber sage: An dem Tag, an dem NaP freigegeben wird, erklärt ihr den Alten den Krieg. Und ich verspreche: An diesem Tag wandle ich mich vom Pazifisten zum Kriegsteilnehmer.

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