«Frauenrechte müssen sich parallel zur Kurdenfrage weiterentwickeln»

Stolz tragen die Kurdinnen des «Beritan Frauenvereins» ein Abbild von Abdullah Öcalan und Sakine Cansiz auf ihrer Leuchtweste. Seit nun fast einem Jahr hat niemand mehr etwas von ihrem grosses Vorbild Abdullah Öcalan gehört. Was sie sich von den Demonstrationen erhoffen und wie sie sich als Frauenverein engagieren, erzählen sie im Gespräch mit Julian Büchler.

 

Mit grossen Demonstrationen (P.S. vom 20. Oktober) verliehen Sie ihrem Ärger über die Funkstille Ausdruck. Sind Sie zufrieden mit der Resonanz?

Kezban Yilmaz: Unter unseren AnhängerInnen gäbe es sicherlich noch Luft nach oben. In Zürich kamen um die 150 Menschen zusammen, an der nationalen Kundgebung in Bern waren es über tausend. Wenn man aber bedenkt, wie viele KurdInnen in der Schweiz leben, relativiert sich die Zahl. Zudem war es unser Wunsch, an die internationale Solidarität zu appellieren und somit auch in der Schweizer Bevölkerung ein Umdenken zu erzeugen, dass wir gemeinsam die Menschenrechtsverletzungen, unter denen Abdullah Öcalan leidet, anprangern.

 

Warum ist es denn gerade jetzt so wichtig, dass die KurdInnen auf ihre Anliegen aufmerksam machen?

Nuran Tekdag: Seit einer Woche kursieren Gerüchte, dass Abdullah Öcalan gestorben ist bzw. in Haft getötet wurde. Niemand kann diese Gerüchte überprüfen und sich somit vom Gesundheitszustand Abdullah Öcalans überzeugen. Wir KurdInnen sind auf der ganzen Welt auf die Strasse gegangen, um Druck aufzubauen – Druck, damit uns die türkische Regierung Informationen gibt.

 

Warum ist Abdullah Öcalan so wichtig für die KurdInnen?

Nesrin Yazar: Abdullah Öcalan ist für uns nicht nur eine Person, er ist vielmehr ein Visionär für die Freiheit der KurdInnen im ganzen mittleren Osten. 1987 gründete er im türkischen Teil des Kurdengebietes die Partei PKK, die er präsidierte. Er hat für ein demokratisches und autonomes Kurdistan gekämpft und vertritt die Anliegen der KurdInnen nach aussen.

 

Wie kam es zu seiner Inhaftierung?

Nuran Tekdag: 1999 fiel Abdullah Öcalan einem internationalen Komplott zum Opfer. Damals drohte die türkische Regierung damit, Syrien den Krieg zu erklären, sollte sich Abdullah Öcalan mit seiner Partei weiterhin in Syrien aufhalten. Abdullah Öcalan suchte an vielen Orten Asyl, bis er schliesslich in Afrika vom türkischen Geheimdienst aufgespürt und verhaftet wurde.

Nesrin Yazar: Seither sitzt er im Gefängnis und wurde zum Tode verurteilt. Trotzdem setzte er sich stetig für die Demokratie und eine friedliche Lösung der Kurdenfrage ein. Doch seit Beginn der Inhaftierung haben die türkischen Behörden Druck ausgeübt. Zwischendurch wurde seiner Familie wie auch seinen Anwälten der Besuch von Abdullah Öcalan verweigert. Seit September 2016 haben wir gar nichts mehr von Abdullah Öcalan gehört – seine Familie darf nicht mehr zu ihm, seine Anwälte dürfen ihn nicht mehr besuchen. Wir haben auch Angst, dass nach dem Putsch gegen Erdogan weitere Menschenrechtsverletzungen begangen wurden.

 

Abdullah Öcalan sitzt auf der Insel Imrali im Marmarameer, welche Zustände herrschen dort und in türkischen Gefängnissen generell?

Kezban Yilmaz: Die Isolationshaft ist sehr speziell, auch unter politischen Gefangenen. Normalerweise können Inhaftierte wöchentlich mit ihren Angehörigen per Telefon kommunizieren, Anwälte haben immer Zutritt. Bei Abdullah Öcalan ist es fast 60 Wochen her, seit seine Anwälte kein Recht auf Besuch mehr haben. Dies ist alles andere als die Normalität, auch nicht bei politischen Gefangenen. Anfänglich haben die türkischen Behörden noch Erklärungen zu den Besuchsverweigerungen abgegeben, beispielsweise, dass das Wetter zu schlecht sei, um zur Insel zu kommen. Seit einiger Zeit bekommen wir keine Antwort mehr, was unsere Ängste und Wut weiter verstärkt. Seit 1999 hat Abdullah Öcalan in der Türkei, in Kurdistan und im ganzen mittleren Osten einen Friedensprozess vorangetrieben. Dies würde bedeuten, dass in jedem Land die jeweiligen Bevölkerungen unter dem demokratischen Prinzip zusammenleben können. Unserer Meinung nach ist Erdogans Regierung bereit, einen Krieg um die kurdischen Gebiete zu beginnen. Mit jedem Mal, wenn Abdullah Öcalan sich für Friedensbewegungen ausspricht, widerspricht dies dem Willen der türkischen Regierung. Somit versuchen sie ihn zum Schweigen zu bringen.

 

Die Anhängerschaft von Abdullah Öcalan ist gross, mit seinen Friedensaufforderungen geniesst er teils auch westliche Sympathien. Die türkische Regierung konzentriert sich sehr auf die Eindämmung seines Einflusses. Gibt es nicht viele andere Leute, die seine Visionen fortführen?

Kezban Yilmaz: Gerade für die kurdischen Frauen gibt es keinen anderen Helden als Abdullah Öcalan. Er hat die Rolle der Frau entscheidend geprägt. Abdullah Öcalan ist für viele mehr als nur eine politische Stimme. Er geniesst zudem auch Sympathien und Anerkennung in Syrien, im Iran und im Irak. Es gibt keinen zweiten Menschen, der eine solche Reichweite hat.

Nuran Tekdag: Abdullah Öcalan ist für uns nicht nur ein Visionär in der Kurdenfrage. Abdullah Öcalan ist gegen den Krieg, wie wir auch. Er fordert Demokratie und Autonomie für alle Menschen, sodass sich jeder frei entfalten kann. Nach ihm sollte es eine Welt ohne Grenzen geben, in der alle Völker selbstbestimmt, aber miteinander leben können. Nicht zu unterschätzen ist seine Stimme im Hinblick auf Frauenrechte.

 

Sie sprechen die Frauenrechte an. Die meisten KurdInnen sind muslimischen Glaubens, trotzdem geniessen vor allem Frauen sehr viele Rechte, was im Gebiet des mittleren Ostens keine Selbstverständlichkeit ist. Sie haben politisches Mitbestimmungsrecht, Frauen nehmen aktiv politische Ämter ein. Inwiefern ist Abdullah Öcalan an dieser Öffnung der Gesellschaft beteiligt?

Nesrin Yazar: Für die Lage der kurdischen Frauen kann man eine Einteilung machen – vor und nach Abdullah Öcalan. Er war 1987 einer der ersten, der eine Partei gründete, in der Frauen mitmachen konnten. In der heutigen Zeit haben beispielsweise im arabischen Raum Frauen nicht das Recht, ein Auto zu fahren, sie dürfen nicht alleine auf die Strasse gehen und sie müssen sich verschleiern. Seit 1987 hat sich unsere Gesellschaft so weit entwickelt, dass Frauen sogar in der Armee erfolgreich gegen den IS gekämpft haben. Die aktuelle Befreiung von Rakka, die von kurdischen Frauen erkämpft wurde, schenken wir KurdInnen als Zeichen offiziell Abdullah Öcalan und allen Frauen dieser Welt.

 

Sie sind mit Ihrem Anliegen an die breite Öffentlichkeit gegangen, was erhoffen Sie sich davon?

Kezban Yilmaz: Unsere Erwartung ist, dass wir wahrgenommen werden, nicht nur unter den KurdInnen selber, sondern auch hier von der Schweizer Bevölkerung und den Schweizer Medien. Wir sind darauf angewiesen, ausserhalb des mittleren Ostens auf den Missstand aufmerksam zu machen. In der Türkei beispielsweise könnten wir nicht einfach so ohne Angst eine Demonstration durchführen. Dort müssten wir fürchten, dass wir von Erdogan vertrieben werden oder sogar ins Gefängnis kommen. Wir werden deshalb nicht von der Strasse gehen, ehe wir eindeutige Informationen von der türkischen Regierung über den Gesundheitsstand von Abdullah Öcalan haben.

 

Sie geniessen wie beschrieben hier in der Schweiz viele Rechte, beispielsweise jenes, dass sie eine Demonstration durchführen dürfen. Sind Sie zufrieden mit dem Engagement, dass die KurdInnen in der Schweiz zeigen?

Nuran Tekdag: Bei uns gibt es ein Sprichwort, zu Deutsch «Die fünf Finger sind nicht gleich». Auf Kurdisch bedeutet das Sprichwort, dass man nicht alles miteinander vergleichen kann. Wir müssen differenzieren. Jene KurdInnen, die aus politischen Gründen in die Schweiz kamen, engagieren sich stark in der Politik. Man kann sagen, dass die, die in der Heimat bereits politisch aktiv waren, ihr Engagement mitgebracht haben, die anderen aber weniger.

Kezban Yilmaz: Als wir beispielsweise einmal ein Interview gemacht haben, da gab es grosses Interesse. Uns ist auch wichtig, mit unserem Verein «Beritan Kurdischer Frauenverein» eine Plattform zu sein, in der sich nicht nur kurdische Frauen engagieren, sondern auch Frauen von hier.

 

Wie sehen die das Engagement der Schweiz für die KurdInnen?

Nesrin Yazar: Von meinem Herzen her würde ich gerne sagen, «ja, die Schweiz macht viel», aber das stimmt leider nicht ganz. Wir erfahren grossen Respekt für unsere Arbeit, aber viele SchweizerInnen wollen sich raushalten, haben wir das Gefühl. Natürlich gibt es in der Schweiz das demokratische System, das spontane Entscheide etwas einschränkt, aber wir würden uns mehr Solidarität wünschen.

 

Bisher haben wir über die Rechte der Frauen in Ihrer Heimat gesprochen, dass sie politisch mitbestimmen dürfen, dass die Frauen sogar in der Armee einen Platz haben. Auch hier in der Schweiz erleben wir laufend Feminismus-Debatten zur Geschlechtergleichstellung wie beispielsweise die Lohndiskrepanz oder die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Würden Sie sich als Feministin bezeichnen?

Nuran Tekdag: Natürlich! Die Ideologie der kurdischen Frauen deckt sich grösstenteils mit den Feminismusforderungen auf der ganzen Welt, da haben wir viel Übereinstimmung. Wir kennen den Begriff «Jinelogie», das bedeutet so viel wie Frauenwissenschaften, eine Lehre, die in den letzten Jahren von kurdischen Frauen gegründet wurde. Sie beschäftigt sich nicht nur mit der aktuellen Rolle der Frau, sondern auch mit deren Geschichte. In der gesamten Evolutionsgeschichte waren es immer wieder die Frauen, die einen überproportional grossen Beitrag an die Gesellschaft geleistet haben, beispielsweise mit pflegerischen Aufgaben. «Jinelogie» bedeutet für uns aber auch, allen Frauen auf der Welt zur Befreiung zu verhelfen.

Nesrin Yazar: Wir glauben, dass die Probleme, mit denen die Frauen auf der ganzen Welt konfrontiert sind, zwar verschieden sind, jedoch alle Frauen das gleiche Ziel haben. Für uns ist es ein wichtiges Thema, dass Frauen nur aufgrund ihres Geschlechtes weniger Rechte als Männer haben. Unsere Jinelogie-Grundsätze thematisieren diese Missstände. Zu diesem Thema veranstalten wir von unserem «Beritan Kurdischen Frauenverein» regelmässig Workshops, um zu informieren. Uns ist bewusst, dass wir in unserer Heimat momentan auch andere Probleme haben, für deren Lösung wir uns einsetzen müssen. Trotzdem darf darunter die Frauenbewegung nicht leiden, wir kämpfen dafür, dass sich die Frauenrechte unabhängig der Kurdenfrage weiterentwickeln.

Kezban Yilmaz: Nur weil die Situation der Frauen in der Schweiz und in anderen Ländern des Westens besser ist als beispielsweise im mittleren Osten, heisst das nicht, das wir uns damit zufriedengeben dürfen. Es gibt Studien, die zeigen, dass jede dritte Frau in der Schweiz bereits einmal Unterdrückung erfahren hat. Dazu zählt nicht nur physische Gewalt, sondern auch eine Unterdrückung mit Wörtern oder innerhalb der Familie. Auf Kurdisch gibt es den Satz «Jin Jiyan Azadi». Übersetzt bedeutet das «Frauen leben Freiheit». Wenn Frauen in einer Gesellschaft keine Freiheit haben, so lebt die ganze Gesellschaft nicht in Freiheit. In der Schweiz versuchen wir, mit anderen feministischen Frauenvereinen zusammenzuarbeiten, um auch politisch neue Projekte anreissen zu können.

 

Begriffserklärung

Jineologie: Der Begriff Jineologie bedeutet Frauenwissenschaft. Die Jineologie wird von der Freien Frauenbewegung Kurdistans als eine wichtige Stufe in ihrem seit etwa 30 Jahren andauernden intellektuellen, ideologisch-politischen Selbstverteidigungs- und Organisierungskampf hin zu einer Soziologie der Freiheit gewertet.

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