Den Wählerauftrag gibts nicht

«Die 460 000 Mitglieder der SPD dürfen in den kommenden Wochen über den ausgehandelten Koalitionsvertrag abstimmen. Die Gegnerinnen und Gegner einer grossen Koalition sind gerade mächtig im Auftrieb. Ihr Argument unter anderem: Zuerst Opposition versprechen, dann grosse Koalition machen, zuerst einen Ministerposten ablehnen, dann Aussenamtschef werden wollen: Bald wird uns niemand mehr etwas glauben.» Das schreibt Lisa Caspari in der Online-Ausgabe der ‹Zeit› vom 9. Februar. Und ja, Martin Schulz, der nach dem Amt des Parteivorsitzenden am letzten Freitag auch noch darauf verzichten musste, Aussenamtschef zu werden, kann einem tatsächlich langsam leid tun – auch das ist im ausführlichen ‹Zeit-Online›-Dossier zur Regierungsbildung in Deutschland zu lesen.

 

Dabei sah es doch eben noch gut aus: Angesichts des Verhandlungsmarathons wäre unter normalen Umständen bereits die Meldung, die Unionsparteien und die SPD hätten sich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt, eine gute Nachricht. Doch weit gefehlt. Angela Merkel mute ihrer Partei viel zu, um eine Regierung zu ermöglichen, war in der NZZ vom 8. Februar zu lesen: «Die CDU gibt das Finanz- und das Innenministerium ab. Der Koalitionsvertrag ist deutlich sozialdemokratisch.» Und Schulz, heisst es im selben Artikel, «schien kaum zu wissen, welchen Erfolg er als Erstes vermelden sollte». Auch Horst Seehofer, der Innenminister werden soll, sei «hochzufrieden». Angesichts dieser Auflistung versteht es sich von selbst, dass aus Sicht der CDU das dicke ‹Aber› auf dem Fuss folgen muss: «Merkel hatte schmerzhafte Kompromisse für alle angekündigt. Die Schmerzgrenze scheint aber niemand so sehr erkundet zu haben wie sie selbst.»

 

Natürlich kann man mit der NZZ der Meinung sein, die CDU habe zu viel gegeben beziehungsweise zu wenig für sich herausgeholt. Doch weshalb bekommt dann hauptsächlich SPD-Mann Schulz ein Problem? Dass seine Partei zwar die Wahlen verloren hat, aber fürs Schmieden einer Grossen Koalition, der berühmten GroKo, unerlässlich ist – und mit entsprechend guten Karten in die Verhandlungen gehen kann–, ist ja nicht seine Schuld. Was ihm die Basis vorwirft, rührt denn auch schlicht daher, dass sich ein Politiker zwar durchaus auf den Standpunkt stellen darf, «was kümmert mich mein Geschwätz von gestern» – im stillen Kämmerchen beziehungsweise abseits von Kameras und Mikrofonen. Aber in aller Öffentlichkeit? Das geht gar nicht. Und so schrieb die NZZ vom 10. Februar von «Turbulenzen in Berlin» und davon, dass die kurze Karriere von Martin Schulz «an eine Groteske» erinnere. Was natürlich übertrieben ist. Wir erinnern uns an die Vorgeschichte: Schulz wurde bekannt als «der Rückkehrer aus Europa», er wurde wie der Erlöser gefeiert und mit hundert Prozent der Stimmen zum Parteivorsitzenden gekürt. Dass derart grenzenlose Euphorie ins Gegenteil umzuschlagen pflegt, lange bevor sie zum Dauerzustand werden könnte, ist ein normaler Vorgang. Zum unvermeidbaren Umschwung kamen in Schulz’ Fall die Versprechen dazu, die er nicht einhalten konnte, und das wars dann.

 

Bleibt die Frage, weshalb man sich nicht einfach damit zufrieden gibt, trotz allem einen Koalitionsvertrag abgeschlossen und damit wieder ruhigeres Fahrwasser erreicht zu haben. Was ist so schlecht daran, sich auf eine GroKo zu einigen, wo die Jamaika-Verhandlungen nun mal gescheitert sind und feststeht, dass weder FDP noch Grüne von ihren Stimmenanteilen her fürs Regieren mit der CDU infrage kämen – und dass nach wie vor keine Partei die AfD im Boot haben will? Zumal bei der SPD mit Andrea Nahles, die den Parteivorsitz übernehmen soll, eine Frau parat steht, die mit allen politischen Wassern gewaschen ist. Ihr ist sogar zuzutrauen, mit Alphatieren wie Sigmar Gabriel zurande zu kommen.

 

Doch auch sie dürfte nicht so einfach Parteivorsitzende werden. Jedenfalls weht ihr gerade eine steife Brise aus dem Norden entgegen: Die Oberbürgermeisterin von Flensburg, Simone Lange, will laut ‹Zeit Online› vom 13. Februar SPD-Chefin werden und somit gegen Andrea Nahles antreten, gegen die sie «persönlich nichts» habe: «Mir geht es um die Art, wie wir zu einer neuen Bundesvorsitzenden kommen. Meinem Verständnis von innerparteilicher Demokratie entspricht es einfach nicht, dass Nahles heute von der Parteispitze eingesetzt werden soll. Die da oben entscheiden einfach – das gab es zuletzt zu oft, und das geht mir gegen den Strich. Parteivorsitzende werden gewählt, nicht eingesetzt; die Basis sollte mitreden.»

 

Da ist sie wieder, die Basis, der das letzte Wort gebührt. PolitikerInnen sind tatsächlich nicht zu beneiden: Sie reden sich den Mund fusslig, sie taktieren, schmieden Allianzen oder grenzen sich ab, sie versuchen, Parteiprogramm, eigene (Macht-)Ansprüche, die Egos von Alphatieren und viele, viele unterschiedliche Befindlichkeiten unter einen Hut zu bringen – mit dem Resultat, dass ihnen am Schluss die Basis ihre Bemühungen um die Ohren haut. In den Kommentarspalten heisst es dann jeweils, die Parteispitze orientiere sich ja bloss an dem, was die JournalistInnen als «Meinung der Basis» bezeichneten, und das decke sich eben nicht mit der «echten» Basis. Und darum hat sie die Watschn verdient, die Parteispitze, jawoll! Die angeblich urschweizerischen Debatten über «das Volk» und den «Volkswillen» lassen grüssen…

 

Es bleibt also vorerst offen, wie es weitergeht in Sachen Personalpolitik der SPD und ob die GroKo tatsächlich noch von der Basis abgeschossen wird, wie es Juso-Chef Kevin Kühnert vorschwebt. Der findet es laut ‹Zeit Online› sowieso «respektlos», dass überhaupt über Personal debattiert wird, bevor die Basis über den Koalitionsvertrag abgestimmt hat.

 

In der aktuellen ‹NZZ am Sonntag› ist derweilen ein interessantes Interview mit Jan Philipp Reemtsma abgedruckt, der Merkel als «eine gute Sozialdemokratin» bezeichnet – und quasi nebenbei daran erinnert, was der Job einer Regierung ist: «Übrigens hat weder eine Regierung noch eine Partei einen Wählerauftrag. Das gibt es nicht. Es gibt nicht den Wähler, es gibt Millionen Wähler. Die wählen die Zusammensetzung des Parlaments. Dann haben die Parteien zu sehen, was sie aus diesem Ergebnis machen. (…) Und: «Man soll nicht über Ideenlosigkeit jammern, wenn man selbst keine vorzeigbaren Vorschläge hat.» Und dann sagt er noch etwas, was man glatt für den Zürcher Stadtratswahlkampf ummünzen könnte: «Um mal Brecht abzuändern: ‹Wehe dem Land, das grosse Männer braucht.› Wer grosse Ideen braucht, dem geht es schlecht.» Gratulation also der Zürcher Linken, die laut NZZ und FDP an eklatanter Ideenlosigkeit leidet und bloss verwaltet, statt zu gestalten: Mindestens in Zürich kann nichts mehr schief gehen.

 

Nicole Soland

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