Bestechende Idee

Seit die Stiftung Züriwerk mit dem Theater Hora das internationale Festival «Okkupation» nicht mehr stemmen mag, sind wir in Zürich der weisse Fleck auf der Landkarte bezüglich Bühnenkunst von/mit Behinderten auf herausragendem Niveau.

 

 

Schon wieder ist es die vergleichsweise lachhafte Summe von 60 000 Franken, die offenbar ungefähr im Minimum fehlen, damit Zürich wenigstens einen Ausschnitt aus den beim Basler Festival «Wildwuchs» zweijährlich programmierten Werken integrativer Kunst, wie das politisch korrekt heisst, als Gastspiele zeigen könnte. Auch genau dieser Betrag war partout nicht aufzutreiben, als es galt, die weltweit einzigartige Choreographieweiterbildung «SiWiC» fortzuführen. Die Glückwünsche für eine Zukunft tönen bei der Absetzung immer gleich blumig nichtssagend und weil sich offenbar niemand so richtig darüber echauffieren mag, verläuft mit einer gewissen zeitlichen Distanz immer alles im Sand. Dabei haben neben Basel auch Bern, Genf und sogar Lugano integrative Festivals, und das grösste Tanzfest der Schweiz überhaupt, das Migros Kulturprozent Tanzfestival «Steps», hat die diesjährige Austragung ihrer seit 1988 bestehenden Tanzbiennale in Fribourg mit integrativem Tanz der «Candoco Dance Company» eröffnet. Zum Trotz könnte man meinen, wäre die künstlerische Leiterin von «Steps», Isabella Spirig, nicht so weit entfernt vom Bild eines täubelnden Kleinkindes.

 

Emanzipatorischer Sprung

«Notturnino», die neue Choreographie, die der Choreograph Thomas Hauert mit der britischen «Candoco Dance Company» einstudiert und damit das Festival eröffnet hat, beruht auf einer schlicht bestechenden Idee und beweist darüber hinaus, dass integrative Kunst in den vergangenen Jahren einen emanzipatorischen Sprung vollzogen hat und nun sogar mit Selbstironie kokettiert. Wie erfrischend! Thomas Hauert wählt einzig die Tonspur (und die Untertitel) von Daniel Schmids Film «Il bacio di Tosca» über abgehalfterte Operndiven als Bewohnende eines spezialisierten Altersheims. Dieser Film ist herzallerliebst schrullig und über alle Massen menschlich, dass einem beim Erkennen, dass es sich
hier um diese eine Tonspur handelt, das Herz grad von selbst öffnet. Man hört schlurfen auf dem Gang, streiten unter Diven, Massregelungen, Einladungen und natürlich Gesang, ganz viel Gesang. Alltag eben. Einfach ein etwas ungewöhnlicherer als der eigene. Genauso leben Behinderte einen Alltag, der etwas ungewöhnlicher ist, als der eigene. Und genauso verhält es sich mit der Tanzperformance der gemischten Company «Candoco». Wenn die beiden körperlich unversehrten Tanzenden, die beiden am Arm handicapierten und der Rollstuhlfahrer aus Solidarität mit der an Stöcken gehenden, zweiten gehbehinderten Tanzenden allesamt mit Stöcken über die Bühne wirbeln, wird aus einem notwendigen Hilfsmittel zur Fortbewegung plötzlich nur noch ein Requisit, wie es bei «Romeo und Julia» zwei Degen sein können. Und der Blick auf die spezifischen Behinderungen der Tanzenden befreit sich von diesem Röhrenblick darauf und begünstigt die Hirnwindungen, diesen Aspekt als quantité négligeable fortan komplett hintanzustellen und sich von der überwältigend ansteckenden Darstellung von Freude, Koketterie, Neckerei und Schabernack der sechs TänzerInnen simpel verzaubern zu lassen. Die Begeisterung geht aber über das verblüffende Bewegungsrepertoire noch hinaus. Selbst bei kaum vorhandenen Opernkenntnissen, also den eigenen, sind in «Notturnino» schlagend schöne Parallelkommentare zu den gespielten Arien erkennbar, die einen die Mundwinkel sehr viel weiter in Bewegung versetzen, als das ein Grinsen auf den Stockzähnen täte. Hinzu kommt ein lustvoller Umgang mit der Kostümierung, die über weite Strecken aus einst eleganten Abendkleidern besteht, denen auf Anhieb anzusehen ist, dass sich ihre Glanzzeiten längst in ferner Vergangenheit befinden, genauso wie die Altersheimbewohnenden in Daniel Schmids Film. Und zum Schluss steppt regelrecht der Bär und komplettiert diese in jeder Hinsicht erfrischende Umsetzung einer bestechenden Idee.

 

«Candoco Dance Company», 11.4., Gessnerallee, ZH.

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