Mitgestalten statt Häme

Bei der schnellen Ausdehnung der EU wurde einiges nicht zu Ende gedacht oder zu Ende gebracht. Trotzdem ist Schadenfreude nicht angezeigt. Als Demokraten sollten wir mitgestalten, gerade jetzt, wo es schwierig ist. 

 

Martin Naef

 

Was waren das eigentlich für Zeiten, als wir uns über einheitliche Krümmungen von Salatgurken und Bananen amüsiert haben? In der EWR-Diskussion 1992 ging es glaub auch um Staubsaugersäcke. Heimelige Erinnerungen. Und jetzt ist vieles anders in Europa. Zuerst war da eine Politik, die in Südeuropa ganze Bevölkerungen an den Rand ihrer Existenz gebracht hat. «Austerität» nannte sich das. Niemand wusste so genau, was das heisst, aber schnell, was es bedeutet. Die Idee, Volkswirtschaften zu sanieren, indem ihre Teilnehmer ausgehungert werden, habe ich noch nie so recht  verstehen wollen. Wer den Binnenkonsum in einer auf ihm basierenden Volkswirtschaft wie in Griechenland abwürgt, nimmt ihr bildlich den Schnauf. Dafür freut es die Exportnationen wie Deutschland, angereichert auch dort durch zu tiefe Löhne. Wenn etwa in Spanien durch diese Politik die Hälfte der Jugend ohne Arbeit ist, braucht sich niemand darüber zu wundern, wenn sie sich nicht nur von ihrer Regierung, sondern auch von der europäischen Idee abwendet. Diese war und ist bekanntlich ein Friedensprojekt. Aber offenbar nicht für die anderen. Die Dramen und Bilder aus Lampedusa, aus Lesbos oder Calais sind kaum zu ertragen. Unerträglich ist aber auch die offensichtliche Unfähigkeit angesichts dieses Leides, sich auf eine gemeinsame, solidarische und humanitäre Politik zu einigen. Zäune und Mauern als ‹europäische› Antwort auf einen Krieg? Das Europa der Menschenrechte in Umarmung mit Erdogan? – Welcher Anachronismus.

 

Organisatorisch noch ein elitäres Projekt

Wie kommt das? Die europäische Integration ist ein unvollendeter Prozess. Zu Beginn ein notwendigerweise elitärer, verordneter Weg. Über wirtschaftliche Zusammenarbeit entstand Vertrauen und eine auch politische Nähe. Ein Denkansatz, der bei der gemeinsamen Währung nicht mehr funktionierte. Zu meinen, man könne gemeinsame ökonomische Ziele definieren und die Liebe entstehe dann von allein, war möglicherweise ein Fehler der jüngeren Zeit. Genauso wenig entsteht Solidarität aus wirtschaftlichem Optimismus wie nach der Osterweiterung. Vieles an der europäischen Konstruktion ist also von positiver Entwicklung, der Absenz von Krisen abhängig – in vieler Hinsicht eine Schönwetterkonstruktion. Und eben nicht zu Ende gedacht oder zumindest noch nicht gebracht. Europa hat sich schnell vergrössert, hat aber kaum Ausgleichsmechanismen geschaffen. Es gibt keine gemeinsame Fiskalpolitik oder Harmonisierung der Sozialsysteme. Das führt dazu, dass in schwierigen Wirtschaftslagen reflexartig – und teilweise zurecht – ‹Brüssel› dafür verantwortlich gemacht wird, derweil alles, was als schützend betrachtet wird, der Sozialstaat, national organisiert ist. Die politische Union ist aber auch darum nicht vollendet, weil die EU organisatorisch immer noch ein elitäres Projekt ist. Wenn man die Bürgerinnen und Bürger vergisst, rächt sich das irgendwann. Immerhin hat das Europäische Parlament seit den Lissaboner Verträgen mehr Kompetenzen erhalten. Zudem gibt es neu eine europäische Bürgerinitiative, also etwas mehr Demokratie. In Krisensituationen wird aber offensichtlich, dass die Macht in der EU weder beim Parlament noch bei der Kommission liegt. Es sind die nationalen Regierungen, die letztlich entscheiden bzw. einzelne Regierungschefs, die den Ton angeben.

 

Die Schweiz hatte Glück

Ich bin keiner, der die Schweiz unbedingt als Modell sieht. Wenn überhaupt, dann aber bspw. bei der Subsidiarität, dem Föderalismus, der Bürgerbeteiligung, dem Minderheitenschutz oder dem Finanzausgleich. Demokratie heisst, dass jene Menschen Entscheidungen treffen, welche davon betroffen sind. Das geschieht sinnvollerweise möglichst nahe an ihnen und an der Sache. Steuererhöhungen für ein neues Altersheim müssen nicht in Brüssel, aber auch nicht in Bern oder im Kantonsrat beschlossen werden. Der Föderalismus hat durchaus kurlige Züge – wie das Ständemehr. Er ermöglichte aber überhaupt das Zusammenwachsen der Schweiz, wie auch die austarierte Rücksichtnahme auf sprachliche und kulturelle Minderheiten. Zur horizontalen inkl. parteipolitischen Gewaltenteilung (der Konkordanz) kommt also ein vertikale, welche den Kantonen immer noch zentrale Kompetenzen überlässt. Über den interkantonalen Finanzausgleich und weitere Umverteilungsmechanismen zugunsten strukturschwacher Gebiete wird zwar immer wieder mal gemurrt, schliesslich sind diese Instrumente aber grundsätzlich breit akzeptiert. Nun hat auch die Schweiz viel Zeit gebraucht, um sich in diese Richtung zu entwickeln. Am Anfang stand ein Bürgerkrieg. Auf ihrem Weg hatte sie Glück. Und ein Wohlwollen der Welt, welches sie kaum je willens oder in der Lage war, zurückzugeben. Wir beschäftigen uns lieber mit uns selbst. Heute mit der ‹Masseneinwanderung›, morgen mit dem Austritt aus der Menschenrechtskonvention. Wenn wir in diesen Tagen dennoch über Europa diskutieren, dann sprechen wir von Unfähigkeit, falscher Politik. Noch schlimmer: Auch in der gegenwärtigen Krise begnügen wir uns mit Kritik oder gar Häme. Hoffen gar auf ein Auseinanderbrechen der EU, in der irrigen Meinung, dies könnte gut sein für die Schweiz. Dabei ist und bleibt eines klar, wenn man all die übermüdeten Teilnehmer dieser Kaskade von Sondergipfeln betrachtet: Hier wird mit friedlichen Mitteln um Lösungen gerungen. Nur, aber immerhin. Was sich ausgerechnet bei uns grossartigen Demokraten erstaunlicherweise kaum einstellt, ist der Wunsch, mitzugestalten. Gerade jetzt, wo es schwierig ist, und für die Zukunft unseres Kontinentes viel auf dem Spiel steht. Das ist mehr als nur schade. Einen anderen haben wir nämlich nicht.

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