Zwischen Verachtung und Vernunft

Einerseits stählen wir unsere Muskeln in Fitnesszentren. Andererseits ersetzen wir unterwegs Muskelkraft durch Strom und steigern damit unsere Energieeffizienz. Der Elektrovelo-Boom steckt voller Widersprüche.

 

Hanspeter Guggenbühl

 

«Jeder muss bei sich selber beginnen.» Also beginne ich bei mir, genauer, in meiner Eigenschaft als Reisender auf einem leichten Fahrrad mit schmalen Reifen. Unterwegs fällt mir auf, dass es immer mehr Elektrobikes gibt. Wenn ich eines dieser Fahrzeuge, deren Geschwindigkeit auf 25 km/h limitiert ist, in der Ebene überhole, tröste ich den Fahrer spöttisch: «Wenn ich einen schweren Motor samt Batterie mitschleppen müsste, wäre ich auch so langsam.» Saust bergauf ein Velo mit grossem Kontrollschild im 35-Kilometertempo an mir vorbei, rufe ich ihm empört nach: «Aha, ein Elektrotöff!» Ähnlich mag es Bergfahrern ergehen, wenn sie von einem Mountainbike mit Elektroschub überholt werden; nach Bergbahnen und Skiliften brandet jetzt eine weitere Elektrisierungswelle über die Alpweiden.

Wer sich selbstgerecht mit eigener Muskelkraft voran bewegt, begegnet Velofahrenden auf elektrischen Krücken mit Verachtung. Das Gleiche gilt für Ästheten, die das Velo als Kult(urgut) betrachten und die klobigen Stromer als Fremdkörper empfinden. Das haben mittlerweile auch Designer und Hersteller bemerkt. Sie integrieren Batterie und Elektromotor inzwischen derart diskret in die Velorahmen, dass man den Unterschied zwischen Muskel- und Stromantrieb kaum mehr sieht.

 

Muskelapparat mit tiefem Wirkungsgrad

Der verächtliche Blick auf die mit Strom gedopten Biker vernachlässigt indes einen wesentlichen Aspekt: Die energetische Vernunft. Denn Elektromotoren sind effizienter als der menschliche Muskelapparat. So wandelt ein Elektromotor über 90 Prozent des eingesetzten Stroms in (Antriebs-)Kraft um. Selbst wenn man den Speicherverlust in der Batterie mit berücksichtigt, bleibt beim Elektroantrieb ein Wirkungsgrad von 70 Prozent. Der energetische Wirkungsgrad des menschlichen Körpers hingegen beträgt im Schnitt 20, auf dem Velo maximal 25 Prozent. Das heisst:  Nur ein Viertel der in der Nahrung gespeicherten Energie drückt als Muskelkraft auf die Pedale; drei Viertel verpuffen als Wärme.

Der Wirkungsgrad wiederum beeinflusst den Verbrauch von Endenergie: Wer mit einem Elektrovelo in vier Stunden hundert Kilometer zurücklegt, benötigt dafür rund eine Kilowattstunde (kWh) Strom (immer exklusive Tramp-Hilfe). Wer die gleiche Strecke mit gleichem Tempo allein mit Muskelkraft abspult, verbrennt drei kWh Energie in Form von Nahrung. Je nach Gewicht gibt es deutliche Abweichungen von diesen Mittelwerten. Denn entscheidender als der Antrieb ist die beförderte Masse. Darum verbraucht ein zwei Tonnen schweres Elektroauto trotz hohem motorischem Wirkungsgrad zwanzig Mal mehr Strom als ein 25 Kilo schweres Elektrovelo mit 75 Kilo schwerem Fahrer. Sogar 50 Mal mehr Energie wandelt ein benzinbetriebenes Mittelklasse-Auto in CO2 um.

 

Viel Verluste bei der Umwandlung

In diesen Vergleichen nicht enthalten sind die Verluste, die bei der Umwandlung von Primär- in Endenergie entstehen. Ein Atomkraftwerk etwa produziert aus der Energie, die im Uran steckt, nur einen Drittel Strom, während zwei Drittel als Dampffahne in die Luft entweichen. Auch in Gas- und Kohlekraftwerken beträgt der Umwandlungsverlust der Primärenergie 40 bis 60, bei Photovoltaik-Anlagen sogar 80 Prozent. Berücksichtigt man den weiten Weg von Uran- oder Kohleminen über das Kraftwerk bis zum Motor, so sinkt der Wirkungsgrad des Elektrovelos auf 20 Prozent.

Noch grösser ist der Verlust, den die heutige Agrar- und Nahrungsindustrie hinterlässt: Um eine Nahrungskalorie auf den Schweizer Teller zu bringen, so hat der Schreibende aus diversen Studien errechnet, braucht es im Schnitt 15 Kalorien in Form von rohen Pflanzen, Tierfutter plus nicht erneuerbarer Primärenergie (vom Erdöl für Dünger und Landmaschinen bis zum Strom für Lebensmittelindustrie und Kochherd). Auf dem gesamten Weg vom Feld über den Teller und Körper bis zum Druck auf die Pedale schrumpft der energetische Wirkungsgrad des muskelbetriebenen Fahrrads im Schnitt auf zwei Prozent.

 

Auf den Speisezettel kommt es an

Dabei ist aber zu unterscheiden: In tierischer Nahrung steckt ein viel grösserer Kalorienverlust als in pflanzlicher. Velofahrer, die ihre Muskelkraft aus Fleisch schöpfen, verschwenden ein Mehrfaches an Energie gegenüber Velofahrerinnen, die sich mit Spaghetti oder Bio-Kartoffeln ernähren.

Ebenso wichtig wie die Menge ist die Qualität der eingesetzten Energie: Wer das bisschen Strom fürs Elektrovelo aus Sonnenenergie erzeugt, belastet die Umwelt weniger als Elektrobiker, die mit Kohlestrom herumkurven. Der Speisezettel des Fahrers beeinflusst die Öko-Bilanz des Velos stärker als die Frage, ob Strom oder Muskeln die Kurbel antreiben. Was den zuvor errechneten Effizienzvorteil des Elektroantriebs wieder relativiert. So kann eine Vegetarierin auf einem leichten Rennvelo den Fleischesser auf einem mit Atomstrom betriebenen Elektrobike auch energetisch hinter sich lassen.

 

Muskeln stählen – mobil und immobil

Die gleichen Wechselwirkungen gelten für andere körperliche Tätigkeiten. Womit wir zu einem weiteren Widerspruch kommen: Während die einen ihre Muskeln entlasten, indem sie vom Velo aufs boomende Elektrobike* umsteigen, stählen immer mehr Personen ihre Muskeln an immobilen Kraft- und Tretmaschinen. Dazu verbrennen sie nicht nur körpereigene Energie, sondern beanspruchen obendrein fremdenergie-verzehrende Fitnesszentren. Vor diesen Trimm-Dich-Buden parkieren kaum Fahrräder, aber viele Autos. Im Vergleich dazu ist die Energiebilanz von allen Leuten, die ihre Transportwege auf einem Velo abspulen und damit gleichzeitig ihre Muskeln an der frischen Luft trainieren, immer noch vorbildlich.

 

* Die Zahl der in der Schweiz verkauften Elektrovelos stieg in den letzten zehn Jahren auf das Zwanzigfache. Im Jahr 2015 verkauften die Händler 66 300 Elektrobikes; jedes fünfte verkaufte Velo besass damit einen Elektroantrieb. Jedes Dritte dieser 2015 verkauften Elektrovelos gehörte zur Kategorie Mountainbike, also zu den vermeintlichen Sportgeräten.

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