Zustand

Diese Krise kennt bereits viele Zustände. Ich auch. 

Noch vor dem Lockdown, als es bereits Homeoffice gab, aber noch keine Schulschliessung, fiel das alles mit der ganzen Wucht völlig unerwarteter Schönheit auf mich drauf. So wie ein Panorama in den Bergen, mit dem man ganz und gar nicht gerechnet hat und das sich plötzlich vor einem auftut, aus dem Nichts. Die Schönheit hatte etwas mit der Stille zu tun, die bereits deutlich hörbar durch das Quartier zog und ein Gefühl hinterliess wie nach dem ersten nächtlichen Schneefall beim Aufwachen, wenn man diese eine Hundertstelssekunde nicht weiss, was das Wattierte und Wohlige ist. Es hatte etwas mit meiner Arbeit zu tun, die sich coronabedingt am Anfang einfach so halbierte und wodurch ich Zustände der Erledigtheit erreichte. Momente, in denen ich alles gemacht hatte, was es zu machen gibt. Ich erkannte, dass das ein Gefühl sei, nach dem ich nun wohl für den Rest meines Lebens streben würde, ohne es je wieder zu erreichen. So schön. So frei. Es hatte auch etwas mit dem Glas Wein in den frühen Nachmittagsstunden in der Sonne auf dem Balkon zu tun, als es noch ein Akt von Übermut und keine Gewohnheit war, es hatte etwas damit zu tun, dass ich mit einem Mal meine Kinder so oft beim Aufwachen und Einschlafen und auch die ganze Zeit dazwischen sah. Es war wunderschön.

 

Das war freilich nicht von Dauer. Es kam die Ernüchterung. Die Zustände in unserer Gesellschaft, die Unterschiede zwischen fest und gar nicht privilegiert schälten sich mit aller Deutlichkeit heraus und wurden sichtbarer, so sehr, dass sie weit ennet der linken Grenze zur Kenntnis genommen werden mussten. Deshalb wohl schwiegen dort drüben so viele. Es liess auch mich nicht kalt, obwohl ich das alles doch schon vorher wusste. Da war ich in meiner grossen Wohnung, mit dem grossen Balkon, dem sicheren doppelten Einkommen, in der Krise nur überlastet mit Homeschooling, Homeoffice und Kinderbetreuung, aber frei von Existenzängsten. Ich zeigte mich betont demütig diesem Glück gegenüber, aber die Demut kam mir heuchlerisch vor, genau wie all die Online-Corona-Tagebücher der anderen Privilegierten mit Bildern aus den aufgehübschten Wohnungen in den Kleinstädten, den Broten in den Öfen, den Blüten und Beeren in den Töpfen draussen, deren erste Reaktion auf die Krise backen, gärtnern und basteln zu sein schien, wenn auch begleitet mit Aufrufen zur Unterstützung der Schwächsten. Wie kommt man auf so etwas? Es war mir so fremd und ich mir auch, mir war alles verrutscht, gerade so wie im Song «26 Schtung oder zwe» von Züri West, wo es im Refrain heisst: «Ig chume verbi, zum checke i welem Zuestand, dass mi Zuestand chönnt si.» Aber da war keiner, den ich hätte fragen können.

 

Klarer schien mir der Zustand um mich herum. Und die eine Frage, die mich seither beschäftigt, richtig fest: wird es etwas ändern? Wird es danach anders? Es wird gerade bewiesen, dass es einen starken Sozialstaat braucht, weil nur er retten kann, wenn alles verloren geht. Es wird gerade bewiesen, dass wir gewisse Menschen in gewissen Berufen systematisch benachteiligen, unterbezahlen, ausnutzen und dass es genau diese sind, die uns nun am Leben erhalten in vielfältiger Weise. Es wird bewiesen, dass unsere Grenzen nichts nützen, weil ein Virus davor nicht halt macht, Sinnbild für die Vernetzung unserer grenzenlosen Gesellschaft, deren Politik das ebenso sein sollte. Eine Politik, die sich um Menschen kümmert, um alle, auch jene in den Lagern, dicht auf dicht, deren Leben zur Zeit noch mehr auf dem Spiel steht als sonst. 

 

Diese eine Frage. Werden wir die Zustände ändern?

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