Zürich zwischen gestern und morgen

Im Spannungsfeld von Hochhausentwicklung, Stadtbild und Klimaschutz steht die Stadt Zürich vor entscheidenden Weichenstellungen für die Zukunft. Eine Rückschau auf die Herausforderungen des vergangenen Jahres und ein Ausblick auf die Chancen von 2024. 

Was uns im Jahr 2023 bewegte

Die behördlich angeordnete Streubauweise von Hochhäusern wird im Stadtbild endgültig manifest. Das Stadtbild leidet, das «Züri-Bircher-
müesli» macht keine Freude. Ende des 19. Jahrhunderts wurde unsere Stadt im Wachstum schöner, jetzt verliert sie wachsend an Profil. Liegt es am städtebaulichen Besteck der Behörden? Liegt es an der veränderten Zusammensetzung der Bauherrschaften? Etwa weil Grossinvestoren ihre «Immobilien-Placements» in Hochhausform durchdrücken und vor gutes Bauen und Nachbarschaft stellen? Die Stadt macht es nicht gut, wenn sie zulässt, dass am Bedarf vorbei schon jahrelang die um 20-40 Prozent teureren Hochhauswohnungen produziert werden. Das Hochbaudepartement hätte die Hochhausförderung längst einstellen müssen. 

Schäden im Stadtgewebe

Den grössten Schaden verursacht die Stadt als Bauherrschaft der Tramdepot Hard-Türme gleich selbst. Auf der Sonnenseite der Limmat direkt am Wasser stehend beschatten die Türme den gegenüber liegenden, beliebten und gut genutzten Wipkingerpark. Damit hat die Stadt ein grosses Eigengoal geschossen. Besorgnis erregt auch das laufende Zuwachsen der Hochhauswände entlang des grossen Gleisfelds. Auffällig ist die Aufreihung der Zementburgen entlang der Hohlstrasse. Ihre Antwort findet sie schräg gegenüber mit IBM und den drei schwarzen Vulcano-Türmen. Denken wir weiter, wird klar, dass sich hier zusammen mit dem Gleisfeld ein Hitzekanal aufbaut. Wie wenn Wohnen an der sommerlichen 40°-Zone mit Bahnlärm ein Vergnügen oder gar ein Privileg wäre.

Der schon ältere Schaden im Stadtgewebe, die Pfostenpalisade unter der Hardbrücke, kommt auf der nächsten Seite zur Sprache. Zur Unglückskette beim Careum: Die Fallwinde des bewaldeten Zürichbergs sind bereits durch ältere Hochschul- und Spitalbauten auf der Platte im Quartier Fluntern behindert. Das Baukollegium der Stadt (noch in alter Besetzung) hat die Bauherrschaft dazu ermuntert, die schädlichste aus mehreren Varianten zu wählen: ein Hochhaus im Hang. Indem es aus der Silhouette ragt, blockiert es die Fallwinde. Das klimatische Unglück geschieht dann weiter unten im sommerlich heissen Pavé der Stadt. Ähnliches steht in der Hanglage Albisriedens bevor, wo das Amt für Städtebau neue Hochhausgebiete vorschlagen will.

Stadt und Klima

Im P.S. zum 1. Mai 2023 wurde auf Seite 11 bereits auf ein Forschungspapier der Universitäten Cambridge UK und Boulder Colorado US hingewiesen (auf Internet: «Decoupling tallness from density …»). Es belegt wissenschaftlich, dass bezüglich CO₂ aus vier Bebauungsformen einzig «low rise/high density» vertretbar ist. Mit den Hochhäusern und den Einfamilienhausgebieten fallen die Extreme fortan ausser Betracht.  

Die weltweite Schockstarre bezüglich des Klimas ist verständlich und auch in Zürich verbreitet. 2023 haben erstmals in der Schweiz übergrosse Hagelkörner Dachziegel durchschlagen. Es gibt Initiativen zu Massnahmen aus verschiedenen Amtsstellen, doch eine übergeordnete Strategie des Gesamtstadtrats fehlt noch. Und störend ist in jedem Fall das Festhalten an der Revision der Hochhausrichtlinien mit Quadratkilometern von neuen Hochhausgebieten und einer Dubai-Zone mit unlimitierter Bauhöhe.

Könnte es sein, dass die kürzlich im ‹Tages-Anzeiger› beschriebenen Kontroversen um das Hochbaudepartement auch darum blühen, weil in der Zeit des vehementen Paradigmenwechsels die erwarteten Antworten ausbleiben?

Was uns 2024 beschäftigen könnte

Bei der Frage, welche Ballone dieses Jahr steigen müssten, stehen nicht nur übliche Massnahmen in Planung und Bau an, sondern die klimatischen, die uns von aussen diktiert werden. Dass die Temperatur langfristig steigt, liegt an den von uns produzierten Treibhausgasemissionen.

CO₂ als neue Beurteilungsgrösse

In der Sache Planet retten ist das Kriterium CO₂ – von der Wiege bis zum Grab bei Baustoffen und Bauprozessen – als weltweite Beurteilungsgrösse an die Spitze vorgedrungen. Der Paradigmenwechsel ist so stark und so klar, dass er ab 2024 Programm werden müsste. Es ist besser, dieses Kriterium fortan als Freund im Boot zu haben, als es zu bekämpfen. Mit dem grossen Anteil an der Treibhausgasemissionen ist das Bau- und Planungswesen im Fokus. Noch verstärkt durch den weltweiten Erlass der «Sustainable Development Goals» der Vereinten Nationen. 

Kurzfristige Massnahmen

Die agile Demokratie Schweiz müsste in der Lage sein, mit dem Grundsatz, «ab jetzt keine Fehler mehr bauen», umgehend zu reagieren. Das ist ein grosses Thema und für Zürich gesprochen bedingte es den Einsatz des Gesamtstadtrats, nicht mehr des Hochbaudepartements allein. «Anne Hidalgo»-Entscheide stehen an. Gemeint ist die mutige Stadtpräsidentin von Paris. Die Hochhäuser gehen, wie schon besprochen und begründet, über Bord, der stark durchgrünte verdichtete urbane Flachbau (vier bis sechs Etagen) tritt in den Vordergrund. Mieterbedürfnisse müssten endlich gleichauf mit denen der Investoren wahrgenommen werden. Solche Regelungen soll es in der Ära Klöti der Dreissigerjahre schon gegeben haben und nach dem Krieg funktionierte die Wohnungsproduktion für Jahrzehnte mit der Kostenmiete als Grundlage.

Langfristige Massnahmen

Die Stadt Zürich konzipiert eine klimagerechte Bauphilosophie, die auf Jahrzehnte hinaus den Rahmen für ökologisches Bauen bildet. Private und Genossenschaften bauen darin auf eigene Initiative. Auch das ein grosses Thema, das den ganzen Stadtrat beschäftigen müsste. Eine Wunschvorstellung: Die Last der Hochhausplanungen entfällt – die Ressourcen gehen in die Formulierung des klimagerechten Städtebaus.

Der kleine und mittlere Städtebau

Nach den grossen Themen sollen auch kleinere zur Sprache kommen, die jedoch für unser Gemüt in der Stadt nicht zu vernachlässigen sind. Es ist der kleine und der mittlere Städtebau mit liebevollen örtlichen Verbesserungen. In Paris sind das die «Embellissements», die Quartier für Quartier vorgenommen werden. Zürcher Beispiele sind der Grösse nach der Röntgenplatz, der Rigiplatz und der kleine Haldenbachplatz. Alle haben durch geringfügige Eingriffe im Strassenraum schlagartig enorme Vorteile für den Lebensraum gebracht. Stadtrat Ruedi Aeschbacher machte diese Zürcher Embellissements durch Erweckung seines Tiefbauamtes möglich. Das waren erste Schritte von der Bewältigung des Autoverkehrs hin zur Verbesserung des Ambientes der Bewohnerschaft. In dieser Hinsicht macht die Vizebürgermeisterin Janet Sanz mit dem quadratischen Strassenraster von Barcelona systematisch vorwärts. Die Zusammenfassung von jeweils neun Strassenblöcken lässt «Superillas» entstehen. Die vier inneren Kreuzungen werden verkehrsfrei, begrünt und leben auf. Jede Adresse bleibt über die Strassen-stumpen erreichbar. Entgegen anfänglichen Ängsten profitieren die Läden. Das ist urbanistische Intelligenz im evolutiven Vorgehen. Es vereint die Schaffung von Lebensraum in den Nachbarschaften mit der Minderung des CO₂-Ausstosses. Man spürt ein schönes Gefälle in Richtung der Philosophie von «bolo’bolo» unseres Zürchers Hans Widmer – mehr Örtlichkeit und weniger motorisierter Konsum per SUV.

Dass das technokratische Menu unter der Hardbrücke toleriert wird, ist kaum zu glauben: Die zwei Palisaden von eng gestellten Eisenpfosten beidseits der Tramgleise trennen neue Stadtteile, die im ohnehin etwas defizitären Zürich West endlich zusammenwachsen sollten. Das Tram, das über ein Dach verfügt, fährt statt in Seitenlage der Strasse mitten unter dem Dach der Hardbrücke. Inzwischen haben Restaurants beidseits Aussenbereiche gebildet. Die beiden Seiten könnten zusammen mit einer klugen Nutzung des grandiosen Daches zum Rückgrat des neuen Stadtteils werden. Paris veranstaltet unter dem Gleiskörper der Métro Aérien hundert Meter lange Quartierfeste. Wann startet in Zürich der Architekturwettbewerb? Eine wahrhaftige Wachstumsstörung besteht in der Vernachlässigung des Limmatraumes. Zu Zeiten der Industriegebiete störte das nicht. Seit der Öffnung ganzer Stadtteile vor bald dreissig Jahren wartet die Bevölkerung auf die Gestaltung des Limmatraumes. Was die Quaianlagen am See im 19. Jahrhundert waren, könnten im 21. Jahrhundert Quaianlagen an der Limmat werden. Die Uferschutzinitiative mit 4700 Unterschriften ist ein Erweckungsversuch, der aus der Bevölkerung kommt.

Envol 

Eine schöne und interessante Aufgabe wartet auf innovative Geister aus Politik, Verwaltung und Fachwelt. Der Begriff Envol ist aus der Romandie entlehnt und wurde dort für die schöne Aufbruchstimmung der Fünfzigerjahre verwendet. Zürich hat jetzt die Gelegenheit, sein Stadtgewebe schöpferisch und klimagerecht zu überarbeiten, oder besser: weiterzuschreiben. Dazu gehört Verdichtung im urbanen Flachbau, Durchgrünung mit tiefwurzelnden Grossbäumen, die lokale Verbesserung des Lebensraumes und der Limmatraum.

 

*Heinz Oeschger ist Architekt und setzt sich in Zürich für eine sinnvolle Stadtentwicklung ein. Er ist Verfasser des Newsletters «zuerivitruv».

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