Zuckertobak

Wer aufhört zu saufen, trinkt mehr Süssgetränke. Wer aufhört zu rauchen, isst mehr Schokolade. «Zuletzt landen fast alle Süchtigen beim Essen», sagt Dr. Joan Ifland, eine erfahrene Kämpferin gegen die dreckigen Geschäfte der Konzerne mit Konsumsüchten. Auch darum sei Esssucht so ausserordentlich schwer zu überwinden: Es ginge dabei um den ultimativen Ersatzbefriedigungs-Verzicht. Ebenso schwierig sei die Abgrenzung des süchtigen vom nichtsüchtigen Essverhalten. Wer eine Zigarette anzünde und rauche, sagt Ifland, könne kaum behaupten, ganz normal zu atmen. Wer jedoch einen abgepackten Snack vom Kiosk verdrückt, kann sich leicht einreden, es handle sich um notwendige Ernährung – und nicht um Abhängigkeit von industriell produzierten Lebensmitteln. 

 

Der Vergleich von Zucker und Tabak ist nicht zufällig. Die US-Tabakindustrie nutzte im 20. Jahrhundert ihr damaliges Insiderwissen über das Suchtpotenzial von Tabak, um die Gesellschaft mit aggressivem Marketing darauf einzuschiessen: Zigaretten waren allgegenwärtig, billig und cool. (Ich erinnere mich an Kaugummi-Zigis aus dem Automaten.) Sobald klar wurde, dass rauchen Krebs verursacht, erfuhr die Bevölkerung am eigenen Leib von ihrer Tabaksucht. American Tobacco gab sich zunächst ahnungslos, wurde dann aber angeklagt und zu einschneidenden Zahlungen verurteilt. Als ihr Geschäft aufgrund staatlicher Gesundheitspolitik allmählich zum Einbruch kam, kauften die Tabakmultis Anfang der 1980er-Jahre zielstrebig Nahrungsmittelkonzerne auf, um nach bekanntem Drehbuch die Kundschaft mit einem neuen unerkannten Suchtmittel anzufixen: nämlich Zucker. 

 

Strategisch geplant wurde dieser, oft in Form von schrottbilligem Maissirup, nun flächendeckend in Lebensmitteln versteckt. Man zielte bewusst auf die Kleinsten mit den noch formbaren Gehirnen: Babynahrung enthielt bis zu 50 Prozent Zucker, unzählige Maskottchen mit Jööh!- und Hip-Faktor wurden kreiert, und am Wochenend-TV explodierte die Frequenz einschlägiger Werbeclips innert sieben Jahren auf das 5,5-Fache. Waren früher zwei Drittel der amerikanischen Bevölkerung RaucherInnen, so sind jetzt zwei Drittel krankhaft übergewichtig. Man kann heute in Harvard Experimentelle Marketing-Psychologie studieren und unter MRI-Bildgebung des Gehirns austarieren, wie viel Zucker gerade noch erträglich ist und wie man unter Beifügung von Salz und Fett maximales Suchtpotenzial generiert.

 

Wer das für eine Verschwörungstheorie hält, lese im neusten «Public-Eye»-Magazin nach, wie unser Seco jüngst versuchte, über Einmischung in die mexikanische Gesundheitspolitik Nestlés Profitinteressen zu schützen. Mexiko führte ein Warnsystem ein, das mit schwarzen achteckigen Negativpunkten auf der Vorderseite von Lebensmittelpackungen  übermässigen Zucker-, Fett-, Salz-, Transfett- und Energiegehalt anprangert. Andere südamerikanische Länder waren damit bereits erfolgreich im Kampf gegen Diabetes und Fettleibigkeit. Mexiko verbietet überdies zuckerlastige Rezepturen für Kindernahrung und cartoon-artige Werbemaskottchen. Nestlé sah darin ein unzulässiges Handelshemmnis und Einmischung in die Produktgestaltung. Mit eidgenössischer Schützenhilfe sollte dies unterbunden und stattdessen ein freiwilliges, zahnloses und offensichtlich korrumpierbares Ampelsystem (auf der Packungsrückseite) bevorzugt werden. Vergeblich! Babysteps auf dem langen Weg in die richtige Richtung…

 

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