«Wir sind gefährlich nahe an einer Zwei-Klassen-Medizin dran»

Ein grosser ‹Laden›, vielfältige Aufgaben: Die abtretende Stadträtin Claudia Nielsen blickt auf ihre acht Jahre als Vorsteherin des Gesundheits- und Umweltdepartements zurück und zieht im Gespräch mit Nicole Soland Bilanz.

 

StadtratskandidatInnen ist jeweils nur zu entlocken, sie würden jedes Departement übernehmen. Sie haben Ihre Zeit als Zürcher Stadträtin hinter sich, deshalb lautet die erste Frage: Welches Departement hätten Sie am liebsten gehabt?

Claudia Nielsen: Das Gesundheits- und Umweltdepartement.

 

Sie haben demnach acht Jahre in Ihrem Wunschdepartement verbracht: Haben Sie es nie bereut, dass Sie dort gelandet sind?

Nein, und ich wollte auch nie das Departement wechseln. Allerdings sieht man jetzt schon, dass das Gesundheits- und Umweltdepartement (GUD) sehr grosse Herausforderungen beinhaltet. Andere Departemente wären vielleicht eine bequemere Wahl gewesen, man sah die grossen Umwälzungen im Gesundheitswesen ja kommen: Ob ein Departement als anspruchsvoll oder einfach zu führen gilt, kann sich leicht ändern. In den 1990er-Jahren beispielsweise dürfte man sich im Stadtrat kaum ums Finanzdepartement gerissen haben. Umgekehrt bin ich nicht naiv, ich wusste bei meinem Amtsantritt 2010 genau, dass ich mit dem GUD für einen grossen und vielfältigen ‹Laden› zuständig sein würde. Die Aufgabe reizte mich, weil es dort um grosse strategische Fragen geht und damit meine Fähigkeiten gefragt sind. Deshalb wollte ich auch ins GUD.

 

Die Arbeit als Stadträtin hat demnach Ihren Erwartungen entsprochen?

Ich war lange Parteisekretärin sowie Gemeinderätin und als solche Präsidentin von drei Kommissionen, sprich, ich hatte eine klare Vorstellung davon, wie es im Stadtrat so läuft. Überrascht hat mich deshalb vor allem, mit wie vielen ‹relativen Kleinigkeiten› man sich als Stadträtin auch noch befassen muss – und wie viel im Bereich dieser relativen Kleinigkeiten vorgegeben ist.

 

Zum Beispiel?

Es gibt wenig, wofür es in der Stadtverwaltung kein Reglement oder keine Vorgabe gibt.

 

Sie haben sich eingeengt gefühlt?

Nein, das würde ich nicht sagen. Denn im Rückblick auf die vergangenen acht Jahre habe ich festgestellt, dass es mir doch an einigen Stellen gelungen ist, auch Organisatorisches zu verändern. Ich habe beispielsweise Dienstabteilungen neu organisiert, die nun auch Neues im Angebot haben. Das hat mit dem Systemwechsel in Spital und Langzeitpflege deutlich an Schwung gewonnen. So haben wir neu eine erfolgreiche Übergangspflege, die Beratungsstelle Wohnen im Alter hat neue Angebote und ist organisatorisch neu eingebettet, den Stadtärzlichen Dienst haben wir anders organisiert, um den Spezialisierungen Rechnung zu tragen, und es gab auch Neuerungen bezüglich der Arbeitsorganisation: Heute habe ich die Adressen und Telefonnummern meiner MitarbeiterInnen auf dem iPhone.

 

Als ich Sie etwa ein halbes Jahr nach Ihrem Amtsantritt interviewte (P.S. vom 7. Oktober 2010) und Sie danach fragte, ob es Sie nicht störe, dass andere Departemente und ihre VorsteherInnen öfters im Rampenlicht stünden als Sie, lautete Ihre Antwort, «dass das GUD ein Departement ist, das kaum Stoff für fette Schlagzeilen liefert, werte ich als gute Nachricht».

Das bezog sich auf eine Einschätzung, die für mich auch heute noch gilt: Es ist ein Vorteil, wenn die Mitarbeitenden und die Departementsvorsteherin in Ruhe an etwas arbeiten können und man nicht in den Feuerwehrmodus kommt. Als ich als Stadträtin anfing, hat zudem kaum jemand über die Spitäler und die Spitalpolitik geredet. Heute ist das ganz anders: Es ist wichtig, dass sich auch die Parteien damit befassen, es ist ein ganz wesentlicher Teil von sozial- und gesellschaftspolitischen Fragestellungen, und mir war es in den acht Jahren ganz wichtig, dass unsere Gesundheitsleistungen auch jenen zur Verfügung stehen, die nicht so privilegiert sind, und dass diese Menschen nicht unter die Räder kommen.

 

Das bestreitet doch gar niemand.

Viele Leute empfinden eine gute Gesundheitsversorgung tatsächlich als eine Selbstverständlichkeit – und wissen nicht, wie gefährlich nahe wir schon an einer Zwei-Klassen-Medizin dran sind. Ich hoffe deshalb, dass der neu zusammengesetzte Stadt- und Gemeinderat weiterhin dafür sorgen, dass die Stadtspitäler, die Altersinstitutionen und die ganze Vielfalt an Angeboten, die so schön ineinander greifen, für alle da sind. Denn ob jemand stationär oder ambulant behandelt wird, ist unterdessen für die Gemeinwesen auch eine finanzielle Frage – je nachdem trägt die Gemeinde allein die Kosten, zahlt der Kanton mit oder werden die Krankenkassen, also die Versicherten, zur Kasse gebeten. Bei seltenen Krankheiten kann es passieren, dass es zwar eine wirksame Behandlung gibt, die aber teuer ist und die die Krankenkassen deshalb nicht oder nicht vollumfänglich bezahlen wollen. Wer soll nun entscheiden, wer diese Behandlung bekommt und wer nicht? Solche ethischen und politischen Fragen werden in Zukunft noch wichtiger. Ich bin stolz und dankbar, dass es uns in Zürich bisher gelungen ist, allen Menschen die Behandlung zukommen zu lassen, die sie brauchen.

 

Ebenfalls im GUD angesiedelt ist der Bereich Lärmschutz. Wenn jüngst Tempo-30-Zonen im Fokus standen, nahmen aber meist entweder der Tiefbau- oder der Sicherheitsvorsteher Stellung: Lautete Ihr Motto, «tue Gutes und sprich nicht darüber»?

Tempo 30 ist in vier Departementen zuhause – und angesichts des kürzlich bekannt gewordenen Bundesgerichtsentscheids ein schöner Erfolg. Als es um die Konzipierung ging, habe ich als Zuständige für Lärmschutz kommuniziert, als es dann ums Verfügen ging, war es der Sicherheitsvorsteher. Grundsätzlich habe ich als Politikerin für die Stadtbevölkerung etwas erreichen wollen. Symbolpolitik ist nicht so mein Ding. Doch ich habe nie befürchtet, meine Taten und Leistungen würden übersehen oder zu wenig gewürdigt: Bei vielen Begegnugen mit Einwohnerinnen und Einwohnern dieser Stadt habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Leute durchaus sehen und schätzen, was ich anpackte und bewirkte.

 

Kürzlich gaben Sie der NZZ zu Protokoll, Sie seien schon im Tram beschimpft und gar angespuckt worden…

Das ist seit dem letzten Sommer wenige Male vorgekommen; diese Fälle bildeten jedoch die verschwindend kleine Minderheit aller Begegnungen im öffentlichen Raum. Unangenehm waren sie natürlich trotzdem. Aber grundsätzlich habe ich insofern eher wenig Spielraum für positive wie negative Schlagzeilen geboten, als dass ich mich als Politikerin meist mit eher technischen Fragen befasst habe – Verkehr, Umwelt, Sicherheit, Energie. Als Stadträtin habe ich dann mein sozialdemokratisches Herz nochmals neu entdeckt und mich für eine verlässliche Alters- und Gesundheitsversorgung engagiert, und zwar für alle, unabhängig von ihrem Portemonnaie.

 

Kommen wir zu den Highlights Ihrer acht Jahre im Stadtrat: Was ist Ihnen besonders gut gelungen?

Beginnen wir mit unserer Altersstrategie: Eine solche gab es vor meiner Zeit nicht, doch es hat sich rasch herausgestellt, wie wichtig es ist, auf einen solchen verbindlichen Rahmen zurückgreifen zu können. Ich habe damit in der ganzen Versorgungskette, die die Stadt seit hundert Jahren entwickelt und ausbaut, Lücken schliessen können – was im Zeitalter der Ökonomisierung besonders wichtig ist. Ein Kernpunkt der Strategie ist die klare Unterscheidung von Alterszentren und Pflegezentren, denn diese beiden Institutionen erbringen je andere Leistungen, und sie erbringen sie für Menschen, die sich an unterschiedlichen Punkten auf ihrem Lebensweg befinden. Diese Unterteilung bewährt sich sehr, doch sie ist jüngst zum politischen Zankapfel geworden, namentlich wegen der Frage, ob jemand, der bei seinem Eintritt zwar kaum Pflege, aber Hilfe braucht, überhaupt noch in ein Alterszentrum eintreten darf. Ich bejahe diese Frage klar. Das können und müssen wir uns leisten, finde ich, denn es geht den Leuten dann häufig nochmals besser, sie blühen auf, und obendrein spart es längerfristig möglicherweise sogar Kosten.

 

Was ist Ihnen sonst noch besonders gut gelungen?

Ich habe mich in drogenpolitischen Fragen engagiert; diese sind allerdings ein schwieriges Terrain, und die Federführung liegt beim Bund. Fortschritte haben wir in der Luftreinhaltung erzielt; die Konzentration verschiedener Schadstoffe hat abgenommen, wenn auch weiterhin viel zu tun bleibt. Dasselbe gilt für die Lärmsanierung, wo wir immerhin deutlich weiter sind. Ich hätte mir gewünscht, dass auf Flüge endlich die Kerosen-Steuer kommt, doch deren Einführung lag nicht in meiner Hand, dafür ist ebenfalls der Bund zuständig. In den nächsten Monaten werden weitere Angebote für demente Menschen hinzukommen, und auch in der Palliative Care ist viel in Vorbereitung. Der Plan für die Spitälerstrategie ist ebenfalls vorhanden und muss ‹nur› noch umgesetzt werden, wobei das für meine Nachfolge doch eine grosse Aufgabe werden dürfte.

 

Langweilig wäre es Ihnen kaum geworden, wenn Sie noch weitergemacht hätten?

Seine Menschenorientierung und Vielfalt macht die Faszination dieses Departements aus: Von A wie Alterszentren bis Z wie Züri-WC ist fast alles drin. Das GUD bildet übrigens auch zwei Drittel aller Lernenden der Stadt Zürich aus – und es bietet allen Beteiligten genügend Herausforderungen zur täglichen Bewältigung.

 

Das führt uns zum «Worst of»: Was ist Ihnen nicht nach Wunsch geglückt?

Die ersten Schritte in der Spitälerstrategie. Das Thema ist sehr komplex, Verantwortliche von vielen Ebenen reden mit, und das Gesundheitswesen ist derart dynamisch, dass man eigentlich dynamisch entscheiden können müsste. Das aber ist schwierig mit dem Anspruch in Einklang zu bringen, politisch – manchmal sehr in die Tiefe – steuern zu wollen. Das System, in das die beiden Stadtspitäler als Verwaltungsabteilungen eingebettet sind, setzt enge Grenzen, und ich frage mich bisweilen, ob sich die negativen Schlagzeilen auf die PatientInnenzahlen ausgewirkt haben könnten. Diese langen Diskussionen in der Öffentlichkeit haben andere Spitäler weniger. In der Drogenpolitik hätte ich gern noch den Cannabis-Pilotversuch gestartet, doch der Bund hat sich quer gestellt. Immerhin hinterlasse ich aber quasi auf dem Silbertablett alles Nötige, damit der Versuch starten kann, sobald der Bund doch noch grünes Licht gibt.

 

Allzuviel ist demnach nicht schief gelaufen.

Sicher nicht. Der Stadt Zürich geht es gut, das GUD ist gut aufgestellt und bietet sehr viel. Hätte ich nur Friede, Freude, Eierkuchen zu vermelden – und das aus einem Departement mit 7000 MitarbeiterInnen, das sich im Spannungsfeld einer Gesundheitspolitik für alle befindet, die auch in Zukunft finanzierbar sein muss –, dann hätte ich etwas falsch gemacht.

 

Kommt hinzu, dass man als Stadträtin ohnehin anders beurteilt wird denn als Stadtrat…

Das ist nicht auszuschliessen.

 

Und wie sieht es innerhalb des Gremiums Stadtrat diesbezüglich aus?

Was man unschwer feststellen kann, ist, dass es zurzeit leider weniger Frauen in solchen Positionen gibt und die wenigen Frauen dadurch sehr ‹ausgestellt› sind.

 

Was packen Sie als nächstes an?

Zuerst einmal gehe ich wandern, mindestens drei Monate über die italienischen Alpen, und danach schaue ich weiter. 56 wird gemeinhin nicht als Traumalter für die Jobsuche angesehen, doch ich habe einen sehr breiten beruflichen Hintergrund, viel Erfahrung und einen guten Leistungsausweis. Ich habe ohnehin alle zehn Jahre etwas Neues angepackt. Ich gehe mit Bedauern, etwas Wehmut und gleichzeitig mit Freude, denn mir winkt ein Mehr an Freiheit. Rückblickend freue ich mich darüber, dass ich heute, nach 25 Jahren in der institutionalisierten Stadtpolitik, durch Zürich radeln und da und dort etwas entdecken kann, an dem ich mitwirken oder dem ich zum Erfolg verhelfen  durfte, seis im Stadt- oder im Gemeinderat. Das zeigt mir jeweils auch, dass schon etwas geht – bloss meistens nicht so schnell, wie ich es gern hätte… Was mich ruhiger schlafen lässt, ist zudem die Tatsache, dass ich die vorgesehene Abgangsentschädigung fast vollumfänglich dafür verwenden kann, eine Versorgungslücke in meiner Pensionskasse zu stopfen. Dadurch muss ich mir kaum Sorgen um meine Altersvorsorge machen, was das Pläne schmieden für die Zukunft doch sehr erleichtert.

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