Wie es wäre

Es ist einige Zeit her, dass ich mich am Nachmittag einfach so hinlegte. Kürzlich war es wieder soweit, ich kränkelte, mir war ganz elend und ich sah keine andere Möglichkeit, als es mit Schlaf am heiterhellen Tag zu versuchen. Es fiel mir schwer und ich dachte zuerst an alle Pendenzen, die ich noch hatte und natürlich gab es noch welche, die ich vergessen hatte und an die ich mich jetzt, im Bett liegend, dafür umso intensiver erinnerte, im Halbdunkel, mit einem Puls, der für Schlaf eindeutig zu hoch war. Nur langsam, ganz langsam beruhigte ich mich. Dann gingen die Sirenen los. 

Die hatte ich vergessen. Obwohl man im Radio und der Zeitung selbstverständlich regelmässig und oft darauf hingewiesen worden war, dass dieser Sirenentest stattfinden würde. Ich lag dann so da und dachte zwei Dinge: Erstens, dass mein Timing wirklich bemerkenswert schlecht ist. Zweitens, dass ein Sirenenalarm an vielen Orten auf der Welt mehr ist als ein Test, der mich von Fieberträumen abhält. 

Wie wäre es jetzt, wenn dieser Test kein Test wäre, phantasierte ich. Ich wüsste gar nicht wohin, stellte ich fest. Damals in meinem Elternhaus hatten wir so einen Schutzkeller mit einer schweren, dicken, massiven Tür, die immer offenstand. Im Raum befanden sich die Gefriertruhe, Konservendosen und andere Vorräte wie Pasta, Konfitüre und Le Parfait-Tuben, der Tumbler, Wäscheleinen und vor allem eines: Spinnen. Kein Krieg der Welt, so sagte ich immer, hätte mich in diesen Raum gebracht, und ja, den Humor muss man sich erst mal leisten können. 

Hier in Zürich ist das anders, in unserem Block gibt es keinen solchen Keller (glaube ich), aber wie ich jetzt herausfand, kann ich sowieso noch gar nicht wissen, wohin ich im Ernstfall müsste, weil die Zuteilung erst erfolgt, wenn Gefahr besteht. Offenbar rechnet man mit einer Vorlaufzeit. Aber dann wollte ich es doch genauer wissen, denn 7200 gleichzeitig heulende Sirenen in der ganzen Schweiz sind keine Sache, die man einfach so auf die leichte Schulter nimmt. Mein nächster Schutzraum befindet sich demzufolge im Hallenbad gegenüber, in dem Raum, in dem die Schwimmbretter gelagert werden, die man sich ausleihen darf. Der Raum ist klein. Gar nicht hoch. Ohne Fenster natürlich. 

Wie wäre es jetzt, wenn dieser Test kein Test wäre. Ich höre den Korrespondent:innen aus der Ukraine, aus Gaza, aus Israel zu, wenn sie berichten. Über diese Sirenen. Sie sagen: Heute gab es bereits am frühen Morgen den ersten Sirenenalarm, die Menschen sind es sich nach diesen Monaten im Kriegszustand gewohnt. Aber ich kann es mir nicht vorstellen, auch jetzt nicht, wo genau solche Sirenen laut und wüst über Zürich kreischen. Ich kann mir den Ernstfall nicht vorstellen. 

Wie wäre es denn genau, wenn tatsächlich jemand angreifen würde? Flugzeuge über das Quartier flögen. Bomben und Raketen. Oder auch nicht, je nachdem, aber man ist ja nie sicher, wenn man mit anderen in so einem Schutzraum sitzt, mehrmals täglich und auch in der Nacht. Ich bin nicht so gut in engen Räumen mit vielen Menschen, muss ich noch dazu sagen. Und viele sind nicht so gut, was das angeht. Wenn dann noch die Angst dazukommt, ich weiss nicht. Spürt man Erschütterungen, wenn Häuser zusammenkrachen? Vermutlich schon. Aber weiss man dann, welches? Und ob alle es schnell genug raus geschafft haben? Sitzt man dann in diesem Raum, zusammengekauert, und überlegt sich, was passiert, wenn es die eigene Wohnung getroffen hat? Hat man eine gepackte Tasche dabei? Schläft man nur noch in Kleidern, damit man gleich losrennen kann, wenn der Alarm ertönt? Gewöhnt man sich wirklich jemals an so etwas? Was ist mit Freunden und Verwandten in anderen Gebieten des Landes. Was weiss man von ihnen? Sind die betagten Eltern in Sicherheit? Und alle diese Gedanken und viele mehr, die mir noch nicht einmal einfallen, weil ich den Ernstfall nicht kenne, ständig im Kopf, in einem Bunker mit anderen Menschen. 

Ich schlief dann doch ein, erschöpft. Der Fiebertraum war gar nicht schlimm, mehr so bunt, wie ein Kaleidoskop, in dem ich tanzte. 

Was den Ernstfall angeht: Ich weiss nicht, wie es wäre.

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