Wenig Hoffnung

Ich habe eine Lesebrille, Hüftschmerzen und einen beginnenden Hallux (sagt der Sportschuhverkäufer). Wer Letzteres nicht googlen musste, ist entweder Orthopädin oder genau wie ich fortgeschrittenen Alters. Mit Freundinnen unterhalte ich mich zunehmend über solche Beschwerden oder die Tatsache, dass ein gelungener Abend um 21 Uhr auf dem Sofa endet. Und das ist erst der Anfang des Älterwerdens.

Ja, ich habe wenig Hoffnung, dass das besser wird. 

Aber das Schlimmste scheint mir nicht einmal der körperliche Zerfall oder dass man online beim Angeben des Alters so lange scrollen muss, bis das Geburtsjahr doch noch erscheint, sondern es sind die Probleme, die mit einem mitgewachsen und noch immer ungelöst sind. Es mag am grauen Wetter liegen und meiner kleinen melancholischen Novemberverstimmung, aber so einfach ist es vermutlich leider nicht. 

Als ich noch vor der Jahrtausendwende an der Uni eine Seminararbeit schreiben musste, gab ich als Thema den Nahostkonflikt an. Ich las einiges dazu, versuchte mir ein Bild zu machen und wollte das dann in einen Text giessen, rund um eine Hypothese, an die ich mich nicht mehr erinnere, dafür aber an den Moment, in dem ich entschied, dass es ein hoffnungsloses Unterfangen war. Es war unlösbar. Der Stoff, der Konflikt: zu komplex. 

In meiner Schulzeit beschäftigte uns die Tatsache, dass die Ölvorräte, von denen wir so abhängig waren, nur noch 50 Jahre lang ausreichen. Ich würde dann vermutlich noch leben und also dabei sein, wenn wir diese Ressource bis auf den letzten Tropfen aufgebraucht hätten. Wir lebten so sehr über unsere Verhältnisse, dass wir auf dem besten Weg waren, uns unserer Grundlage zu berauben. Das war beängstigend. Heute passt der furchteinflössend lange Sommer zu den Statistiken über die Anzahl der Klimatoten. In der Schweiz waren das im vergangenen Jahr 60 Prozent der hitzebedingten Todesfälle, neueste Erkenntnisse der Universität Bern gehen von einem Anstieg der Klimatoten in den nächsten Jahren aus. Also von 300 auf 1900 Hitzetote pro Jahr und von 4100 auf 6600 kältebedingte Tote. 

Im Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, erzählte man sich von den Liebesgeschichten mit italienischen Zuwanderern in den 1970er-Jahren. Die wenigsten von ihnen endeten schön, die allermeisten unerfüllt. Das Fremde in Form eines jungen Italieners war dermassen unerwünscht, dass Eltern ihren Schweizer Töchtern solche Beziehungen verboten. Dann kam die Schwarzenbach-Initiative und versetzte alle diese eingewanderten Menschen in eine beispiellose Angst. Aus dem damals vorherrschenden Begriff der «Überfremdung» wurde dann die «Masseneinwanderung» und neuestens die «10-Millionen-Schweiz», was beinahe elegant tönt im Vergleich. Für diese letzte Kampagne wurden Bilder von Menschen dunkler Hautfarbe gezeigt als Symbol für die 10 Millionen, vor denen wir uns zu fürchten haben. Furcht sah ich allerdings nur in den Augen der Abgebildeten. Beispiellose Angst. Es ändert die Herkunft des Fremden, es bleibt die Ablehnung. 

Hat sich denn überhaupt etwas geändert, zum Besseren? Mir fällt meine Mutter ein, die als arbeitende Frau damals nur eine Chance hatte, weil die Grosseltern auf mich aufpassten. Das ist heute nicht viel anders, ohne meine Mutter und Schwiegermutter wäre vieles schlicht nicht möglich gewesen, auch für mich und meinen Mann nicht. Und nur weil wir jetzt das Frauenstimmrecht haben oder Vergewaltigung in der Ehe nicht mehr straffrei ist, kann man halt noch nicht in Freude ausbrechen. 

Mir kommt es so vor als kümmerten sich einfach ständig neue Generationen um die gleichen Probleme mit dem gleichen Ergebnis. Heute reden wir nicht mehr vom Öl, sondern von den zwei oder drei Grad Erderwärmung, und es müsste uns eigentlich Panik erfassen. Die fremden Menschen kommen nicht mehr von Süditalien, sondern von noch viel weiter zu uns, aber sie sind so unwillkommen wie alle vor ihnen. Und der Nahostkonflikt ist aktuell eine schreckliche Katastrophe, wie eine offene, blutende Wunde, die niemand heilen kann oder will.  

Es ist nicht der November. Es ist keine Alterserscheinung. Es ändert sich einfach nichts, oder? Ich habe gerade wenig Hoffnung, dass das besser wird. 

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