Vor 80 Jahren wurde der ranghöchste Landesverräter hingerichtet

Unter strengster Geheimhaltung wurde fast auf den Tag genau vor 80 Jahren Major Ernst Hans Pfister, der ranghöchste Landesverräter während des Zweiten Weltkriegs, im Horgner Wald erschossen. Eine Spurensuche im Bundesarchiv sowie vor Ort und im Gespräch mit einem heute gut 88jährigen Zeitzeugen.

Es ist der 30. März im Kriegsjahr 1944. Hoch über Horgen im verschneiten Wachtholzwald am Rande des Horgenbergs bricht die Abenddämmerung herein. Jetzt peitschen plötzlich Gewehrschüsse durch die Stille. Dann sinkt ein Mann in Armeeuniform und mit verbundenen Augen lautlos zur Seite. Es ist der 47jährige Major Ernst Hans Pfister, der ranghöchste Landesverräter während des Zweiten Weltkriegs. Ein Erschiessungskommando des Infanterieregiments 28 hat ihn soeben exekutiert. Am Vormittag desselben Tages hatte die vereinigte Bundesversammlung in geheimer Sitzung das Begnadigungsgesuch von Pfisters Frau abgewiesen. Der frühere Chef der Abteilung Heeresmotorisierung im Armeestab war einen knappen Monat davor vom Divisionsgericht 6 in Zürich unter der Leitung von Grossrichter und Oberstleutnant Ulrich Farner aus Horgen zum Tode verurteilt worden. Der hochrangige und geständige Offizier aus dem Berner Oberland hatte sich gemäss den Gerichtsakten des «schwersten Landesverrats» überhaupt während des Zweiten Weltkriegs schuldig gemacht. Er hatte sich von der attraktiven Nazi-Spionin Elsa Schmehlik, die er 1940 beim Spazieren am Utoquai in Zürich kennengelernt hatte, bezirzen lassen. Und ihr hochsensible militärische Geheimnisse verraten. So etwa die Reduitgrenzen oder die Pneu- und Treibstoffbestände und auch Einzelheiten zur Mobilmachungsübung eines Armeekorps. Über die damaligen Ereignisse und die Exekution im Horgner Wald waren damals kaum viel mehr als vage Gerüchte und Spekulationen an die Öffentlichkeit gedrungen. Den Anwesenden der Hinrichtung war höchste Schweigepflicht auferlegt worden. An die Medien gingen bloss knappe amtliche Verlautbarungen über das Todesurteil und dessen Vollzug. Diese zu kommentieren oder anderweitige Meldungen darüber zu publizieren, war ihnen strengstens verboten. Ein halbes Jahrhundert über die Aktivdienstzeit blieben die Akten zum Fall Pfister unter Verschluss. Sie tragen auch heute noch die damalige Klassifizierung «Geheim», sind aber seit dem Ablauf der 50jährigen Schutzfrist im Bundesarchiv in Bern öffentlich einsehbar. 

Protokoll der Erschiessung

Im entsprechenden Dossier findet man auch den minutiös verfassten Rapport des mit der Exekution beauftragten Kommandanten des Infanterieregiments 28 samt einer exakten Bezeichnung des Hinrichtungsplatzes: «Von den vier in Vorschlag gebrachten Plätzen entschied sich der Kommandant für das Wachtholz, westlich Horgen, Koordinaten. 686,500/234,700», heisst es darin. Lokalisieren lässt sich dieser Ort somit im Horgenberg ob Horgen, oberhalb der heutigen, 1967 eröffneten Autobahn A3 zwischen den Parkplätzen Moorschwand und Nordecke. Und zwar an einem Forstweg, der in südöstlicher Richtung vom Nordecke-Parkplatz parallel zur A3 über den dortigen bewaldeten Hügelzug zur Eichlochhütte führt (siehe Kartenausschnitt).

Beim Augenschein vor Ort erinnert heute nichts mehr an das schreckliche Geschehen. Ahnungslos queren Biker, Spaziergänger und Jogger die im damaligen Rapport angegebene Todeszone. Vogelgezwitscher ist zu vernehmen. Und durch den noch lichten Frühlingswald sind in ein paar Hundert Meter Distanz ein grosser Stall und Wohnhäuser der Weiler Moorschwand und Maurenmoos zu erkennen. Die Richtstätte befinde sich «in einem Tannenwald unmittelbar an einem befahrbaren Waldweg», sei «abgelegen» und «lässt sich allseitig leicht absperren», vermerkte der Kommandant damals. Auch biete sie «einen guten Kugelfang», heisst es im Rapport weiter. Letzteres lässt zumindest vermuten, dass die eigentliche Hinrichtung womöglich nicht direkt beim angegebenen Koordinatenkreuz oben auf dem Rücken des Hügelzugs und damit an eher exponierter Lage stattfand. Sondern allenfalls in kurzer Distanz seitlich davon: entweder an der dort gegen den See hin oder aber an der gegen das Sihltal hin abfallenden Hangflanke. 

«Wir haben die Schüsse gehört»

Eine etwas andere Version bezüglich des Exe­kutionsortes aber ist von einem Zeitzeugen von damals aus dem Horgenberg zu hören. Vom früheren Finanzsekretär von Rüschlikon, dem heute gut 88jährigen Walter Gachnang, der in Oberrieden wohnt. Er ist mit drei älteren Geschwistern auf einem Bauernhof im Weiler Moorschwand im Horgenberg aufgewachsen und war an jenem Märzentag gut acht Jahre alt. Demnach soll die Exekution im Wachtholz gut 300 Meter nordwestlich des im Militärrapport erwähnten Koordinatenkreuzes in einer Kiesgrube stattgefunden haben.

«Wir mussten auf dem Hof bleiben, die Wege in der näheren Umgebung waren alle abgesperrt», erinnert sich Gachnang. «Dann hörten wir Schüsse». Kurz darauf sei ein Leichenwagen am elterlichen Hof vorbeigefahren in Richtung einer damaligen kleinen Kiesgruppe, die sich knapp unterhalb des heutigen Parkplatzes Nordecke befand. Eine Viertelstunde später sei der Leichenwagen dann wieder in der Gegenrichtung am Hof vorbeigefahren. «Wir sind ganz eindeutig davon ausgegangen, dass die Erschiessung in der damaligen Kiesgrube dort stattgefunden hat», sagt Walter Gachnang. Eine Kiesgrube ist im Militärrapport allerdings nirgends erwähnt.

«Legt an – Feuer!»

Zurück zum Rapport des für die Erschiessung zuständigen Kommandanten des Infanterieregiments 28. Gemäss seinen Schilderungen lag Ende März 1944 noch Schnee im Horgenberg. Kurz vor der Hinrichtung sei ein starker Regen niedergegangen und habe es zu dunkeln angefangen. «Doch bestand noch genügend Helligkeit für die Durchführung des Erschiessens», hält der Kommandant lakonisch fest. Die Besammlung in der Nähe des von der Kantonspolizei abgesperrten Richtplatzes sei «programmgemäss ohne irgendwelche Störungen» erfolgt, heisst es im Bericht weiter. Der Delinquent, der von der Strafanstalt Regensdorf nach Horgen überführt worden war, sei sofort abseits gebracht worden «und blieb der Truppe bis zum letzten Augenblick verborgen». Der Kommandant liess die 20 Wehrmänner des Erschiessungspelotons zehn Gehminuten vor der Richtstätte aussteigen und orientierte sie erst zu diesem Zeitpunkt über ihren Auftrag. Um 18.30 Uhr trafen sie zusammen mit Vertretern der Militärjustiz sowie zwei Ärzten und Seelsorgern und einem Berner Regierungsrat am Hinrichtungsplatz ein, «die Truppe mit dem Rücken zum Baum, an welchem der Verurteilte festzubinden war». 

Als Pfister «mit verbundenen Augen, aber ohne sonstige Fesselung zum Baum gebracht war», wird der Truppe Achtungsstellung befohlen und verliest der Grossrichter das Urteilsdispositiv. Dann gibt der Feldprediger dem Todgeweihten den letzten Zuspruch. Auf Anordnung des Kommandanten befiehlt jetzt der Zugführer der Truppe: «Rechtsumkehrt – vorderes Glied knien – zum Schuss fertig – legt an – Feuer!» Pfister «sinkt sofort etwas nach links zusammen». Der Tod sei sofort eingetreten, heisst es im Protokoll. Der Leichnam wurde darauf nach Zürich überführt und zwei Tage später in Bern im Beisein von Pfisters engsten Angehörigen kremiert. 

Kontroverse ausgelöst

Zwischen 1939 und 1945 wurden in der Schweiz 33 Todesurteile gegen Landesverräter gefällt, wovon 17 auch vollstreckt wurden. In der Geschichtsforschung werden die damaligen Todesurteile und ihr gesellschaftspolitischer Hintergrund kontrovers beurteilt. Sie lösten insbesondere nach dem Dokumentarfilm «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.» von Niklaus Meienberg und Richard Dindo Mitte der 1970er-Jahre heftige Diskussionen aus. Ihre These damals: An einfachen Arbeitern und Soldaten wurde ein Exempel statuiert, derweil Waffenlieferungen von Industriellen an die Nazis toleriert wurden.

 

 «Plauderstündchen» mit der schönen Nazi-Spionin

Eingelassen hatte sich der 1944 im Horgner Wald exekutierte Major Ernst Hans Pfister auf die in den Gerichtsunterlagen als attraktiv, raffiniert und sehr intelligent beschriebene deutsche Spionin Elsa Schmehlik, eine gebürtige Tschechin. Beim Promenieren in Uniform am See in Zürich war er 1940 der damals 42Jährigen erstmals begegnet. «Sie fiel mir bei einem Spaziergang am Utoquai auf, ich blickte zu ihr zurück und konstatierte, dass sie das Gleiche tat. Ich sprach sie an und lud sie in ein Café ein», gab Pfister später dem Untersuchungsrichter zu Protokoll. Mit der «intelligenten, belesenen und welterfahrenen» Frau habe man «sehr interessant plaudern» können – etwa über das Weltgeschehen und die zukünftige Weltordnung: «In der Folge bestellte ich sie wiederholt zu einem Plauderstündchen in ein Café» in Zürich. Daraus entwickelte sich bald ein vertrauliches Verhältnis, ohne dass es zu Intimitäten gekommen sei. Nach einem der ersten Treffen gab sich Schmehlik als Agentin des deutschen Nachrichtendienstes zu erkennen. 

Williger Gehilfe der Nazi

Vor der Militärjustiz gestand der Major schliesslich, dass er Schmehlik alles verraten oder ausgehändigt hatte, «was er für den deutschen Nachrichtendienst als von Interesse» erachtet hatte und was ihm in seiner hohen Stellung als Chef der Heeresmotorisierung im Armeestab zugänglich gewesen war. Dazu gehörte etwa eine Strassenzustandskarte, auf denen Pfister die Grenzen des Reduits, die Armeekorps-Abschnittgrenzen, die Pneulager und Pneubestände eingezeichnet hatte. Ferner ein Verzeichnis der Benzindepots samt Vorratsangaben, eine Liste der Stellungsplätze der Armeemotorfahrzeuge sowie den Geheimbefehl des Generals zu einer Mobilmachungsübung. Mündliche Angaben machte der fehlbare Stabsoffizier zudem zur Anzahl Panzerwagen und der Reichweite der Flammenwerfer. Und er versuchte gar an den Plan über die Truppenaufstellung im Reduit im Kriegsfall zu gelangen – allerdings ohne Erfolg. Den mehrfachen Landesverrat begründete Pfister damit, dass er im Kriegsfall eine schnelle Kapitulation der Schweiz habe herbeiführen wollen, «um unnötiges Blutvergiessen zu verhindern». Von Schmehlik hatte er nach eigenen Angaben nur etwa 200 Franken Spesenentschädigung erhalten.

Über Hoteleintrag gestrauchelt

Aufgeflogen war Pfister und mit ihm der gemäss Militärjustiz schwerste Landesverrat im Zweiten Weltkrieg Anfang Januar 1944, als Schmehlik bereits enttarnt war und schon über ein Jahr in Untersuchungshaft sass. Ein anderer deutscher Agent hatte im Verhör angegeben, dass Schmehlik im Februar 1942 in Zürich einen ihm nicht namentlich bekannten Major getroffen habe. Die Polizei überprüfte sämtliche Übernachtungsbulletins der Zürcher Hotels aus der fraglichen Zeit und stiess dabei auf den Namen von Major Pfister. Am 6. Januar 1944 wurde er in seiner Wohnung im Berner Oberland verhaftet. Am 3. März 1944 verurteilte ihn das Divisionsgericht 6 am Obergericht in Zürich einstimmig «zum Tode durch Erschiessen und zur Degradation». Die Richter waren zur Überzeugung gelangt, dass die Mobilmachung der Armee bei einem Angriff Hitlers wegen des mehrfachen «schändlichen» Geheimnisverrats, «wenn nicht überhaupt verunmöglicht, so doch in schwerstem Masse beeinträchtigt worden wäre». Auch der 1982 verstorbene renommierte Strafrechtsprofessor Peter Noll, der 1980 unter Anonymisierung von Namen und Örtlichkeiten das Buch «Landesverräter – 17 Lebensläufe und Todesurteile» publiziert hatte, sah im Fall Pfister den «wohl schwersten Landesverrat», der während des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz bekannt wurde. Als Mitangeklagte wurde Schmehlik am 3. Januar 1944 zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Sie nahm sich 1945 in der damaligen Strafanstalt Regensdorf das Leben. as.

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