Von Augenverletzungen und vom Wegschauen

Etwa im Zehnjahrestakt windet sich das Thema Gummigeschosse, respektive eine Prüfung deren Verbots, in den politischen Diskurs. Dafür, dass das Thema seit 40 Jahren immer wieder einen Wirbel zu verursachen vermag, ist die Abwesenheit tatkräftiger Anstrengungen, den polizeilichen Einsatz von Gewaltmitteln einzudämmen, zu regulieren oder zumindest zu standardisieren, aber befremdlich. Derweil hat die Polizei aufgerüstet, hat neue Werfer und neue Geschosse. Und bei der Konferenz der Polizeikommandant:innen KKPS sieht man in der hiesigen Polizeipraxis keinen Anlass zur Selbstkritik. 

Eine SRF-Impact-DOK versuchte kürzlich, der Frage nachzugehen, weshalb die Polizei Gummigeschosse einsetzt. Seit den 1980er-Jahren haben mindestens 29 Personen schwere Augenschäden erlitten, nachdem sie auf der falschen Seite des Geschosswerfers standen. Die Zahl stammt von Augenärztin Anna Fierz, die dieses Jahr einen Artikel in der Fachzeitschrift ‹ophta› zum Thema Augenverletzungen nach Gummischroteinsatz geschrieben hat. Klar ist, dass es eine hohe Dunkelziffer geben muss und auch, dass der Einsatz vom streuenden Gummischrot aus augenärztlicher Sicht mindestens problematisch ist. 

Der Hintergrund der SRF-DOK war, dass auch dieses Jahr bei den Ausschreitungen in Zürich rund um den 1. Mai der Einsatz von Gummigeschossen zu einer schweren Augenverletzung geführt hat. Der Reporter besucht zum Abschluss die KKPS und spricht mit deren Präsident Mark Burkhard. Dieser macht es sich relativ einfach: Die beste Prävention, solche Verletzungen vorzubeugen, sei, nicht an gewalttätigen Ausschreitungen teilzunehmen. Auf den Einwand hin, es sei auch mit Gummigeschossen auf eingekesselte Menschen an Demonstrationen geschossen worden, meint er allerdings: «Das muss ja schon sehr speziell sein, wenn Leute eingekesselt sind, dass man dann Gummischrot auf sie schiesst. Weil: Die Leute sind ja dann unter Kontrolle der Polizei, dann muss man ja keine Mittel einsetzen.»

Abgesehen davon, dass man sich hier dem Problem zu verschliessen scheint, zeigt die Sache auch, dass der politische Diskurs wenig Einfluss auf die Polizeipraxis hat. Und ebenso, welche Politiker:innen für die Polizei zuständig sind. Das kennen wir in Zürich ja gut, wo das Polizeidepartement linken Exekutivmitgliedern zugewiesen wird, als wäre es eine Tradition, nur um sie dann wiederum schelten zu können, wenn die Rechten Recht und Ordnung verloren meinen. Gleichzeitig ist man stolz auf eine modernisierte Polizei. Im Umgang und im Arsenal. Konkret heisst letzteres: Ein neuer Granatwerfer, neue, grössere Geschosse in Form der SIR, der «safe impact round», die sowohl in Form als auch Grösse aussieht wie ein halber Golfball. Politisch hat das abgesehen von den sporadischen Forderungen nach einem Verbot der Geschosse für wenig Aufsehen gesorgt – im Gegenteil: Wenn es um Polizeigewalt geht, dann meist eher um Verschärfung der repressiven Möglichkeiten, so etwa mittels Überwälzung von Einsatzkosten.

Die rechtsbürgerlich dominierte Medienlandschaft trägt diese Aufrüstung gerne mit: Insbesondere in den grösseren Schweizer Städten wird eine Unterwanderung des Protests durch nicht einmal linksradikale, sondern einfach «linke» Chaoten erkannt – ein Mitverdienst der JSVP, die mit ihrer Anti-Chaoten-Initiative einen guten Zeitpunkt erwischt hat. Es könnte mehrheitsfähig sein, den Protest als Aktionsform einzuschränken, gestützt mal auf die vermeintliche linksradikale Unterwanderung der Städte, mal auf die Hufeisentheorie, etc. Das will man nicht nur durch einen Ausbau des Polizeikorps bekämpfen, sondern auch mal finanziell durch Verrechnung allfälliger Einsatzkosten und notfalls auch durch eine mögliche Beschneidung der Grundrechte bei Demoverboten. Nun kann man das vielleicht als strahlendes Beispiel eines klassisch schweizerisch-bünzligen Umgangs mit Anliegen auslegen, die nicht genehm sind: Ein eingeschlagenes Schaufenster passt nicht in unsere so lebenswerte Stadt. Generell sind wir doch alle zufrieden, dass wir in der Schweiz leben. Und Protest ist ohnehin übertrieben, ein Affront gegenüber tatsächlichen Anliegen. Oder?

Natürlich lässt sich Protest als Aktionsform, als Grundrecht nicht gleichsetzen mit Gewalteskalation an Protesten. Und natürlich ist das Eskalationspotenzial im Rahmen von Protest nicht unproblematisch. Ebenso hat die Polizei einen Auftrag, dem sie nachzukommen versucht. Dass das nicht auf Begeisterung von Links stösst, ist zu erwarten, keine Schweiz-spezifische Angelegenheit und wohl auch kein Anspruch der Freunde und Helferinnen. Aber das Bild des Bünzlis in seinem Haus mit Garten, wo eine meterhohe Hecke den Blick nach aussen verwehrt, ist nicht nur eine spöttische, bittere Sichtweise auf unsere Kultur.

Zunächst ein Blick hinter die Hecke respektive über die Grenze hinaus. In den meisten europäischen Staaten ist der Einsatz von Gummigeschossen grundsätzlich untersagt. Ab und zu kommen sie bei grossen Demonstrationen dennoch zum Einsatz, was oft viel öffentliche Kritik an den Polizeikorps nach sich zieht. Die Schweiz ist eines von wenigen europäischen Ländern, in denen der Polizei in den meisten Kantonen gesetzlich einfach der Einsatz «geeigneter Mittel» angeordnet wird. 

Umso schlagkräftiger ist ein Blick zurück in die 1980er-Jahre, genauer in eine berüchtigte Sendung zu den Jugendunruhen, als zwei Vertreter:innen der Jugendbewegung mehrere Stadtzürcher Politiker:innen live on air in einer zynisch-sarkastischen Eigendarstellung als Spiessbürger:innen regelrecht vorführten. Der damals junge, kürzlich verstorbene Fredi Meier als Herr Müller zückte in dieser Sendung zwei Gummigeschosse aus seiner Tasche und beschwerte sich, dass man ja eigentlich viel öfter und schneller schiessen müsste, eigentlich ja sogar mit tödlichen Geschossen. Aber wenigstens habe die Polizei mittlerweile gelernt – er hält die Geschosse in die Kamera – und die Geschosse deutlich grösser gemacht. 

Dass die Gummigeschosse erhebliche Risiken in Bezug auf insbesondere Augenverletzungen darstellen, ist auch der Polizei klar. Deshalb wird ein Mindestfeuerabstand vorgeschrieben, der nur in Notwehr unterschritten werden darf. Die Videoaufnahmen, die in den sozialen Medien in Reaktion auf Gewalteskalationen geteilt wurden, lassen den Laien zwar bezweifeln, ob eine eingekesselte, notgedrungen mit Stofftüchern formierte Phalanx oder auf dem Kanzleiareal verschanzte Personen, denen der Weg abgeschnitten wird, eine Bedrohung von Leib und Leben darstellt. Dass der Mindestabstand und die Vorschrift, dass nur hüftabwärts gezielt werden darf, die Augen dennoch nicht vor Streumunition schützt, würde noch ein anderes Fass aufmachen.

Die Polizei gibt sich derweil als stoischer, disziplinierter Wächter des Landesfriedens. Kritik an der polizeilichen Kultur wird bei der KKPS als nicht nötig empfunden. Derweil erklärt eine Betroffene in der SRF-Dok, dass ein Polizeikommandant, nachdem sie 2019 durch polizeilichen Gummischrot eine schwere Augenverletzung erlitten hatte, zur Entschuldigung eine Packung Pralinés zu Hause vorbeigebracht hätte. Nur so, von wegen Ausdruck schweizerisch-bünzliger Kultur und Bereitschaft, strukturelle Probleme anzugehen. 

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