Vom fernen oberen Tösstal

Dies ist eine Einladung ins hinterste, politisch eher finstere Tösstal: Ein später in der weiten Welt gescheiterter Fischenthaler wird mit diversen Anlässen und einer Neuausgabe des Romans seiner Jugend gewürdigt. Ein orts- wie zeittypischer Unternehmer kommt zu einer Biographie. Und der Dorfarchivar von Bauma erzählt hundert kunterbunte Geschichten.

2006 empfahl ich in einer der ersten P.S.-Buchbeilagen einen vom Limmat-Verlag neu aufgelegten autobiographischen Roman: «Hans Grünauer» von Jakob Senn. Zentral fand ich jene «Sehnsucht nach Büchern», die den einen von zwei Brüdern nach Zürich trieb, während der andere, Heinrich, im noch extrem abgelegenen Fischenthal blieb und «mit akkurater, enger Handschrift» rund 2700 Seiten mit Tagebuchnotizen über das Leben auf dem Land füllte. Die wurden nie publiziert, aber Matthias Peter hat sie für ein beide gleichwertig einbeziehendes «Zeitbild» der Schweiz im 19. Jahrhundert genutzt.

Fischenthal, Zürich und weiter

Auch das Nachwort von Peter in der zu Jakobs 200. Geburtstag erschienenen, handlich hübsch gestalteten Neuedition der Jugenderinnerungen bezieht Heinrich mit ein, wer die zu diesem Anlass gestaltete Website besucht, lernt beide Brüder kennen, kann «bildhaft und anekdotenreich einen exemplarischen Blick auf die Anfänge der Alphabetisierung und Literarisierung der Landbevölkerung» werfen. Fantastisch! Auch zeigt der Senn-Biograf, der selber in St. Gallen als Theatermann wirkt, in mehreren szenischen Videos, wie der Fischenthaler – von Zürichs kultureller Vielfalt beflügelt – noch eine gute Zeit weiter östlich im Umfeld der Stiftsbibliothek verbrachte, mit weniger Glück ins Spekulieren geriet, sich mit seiner Frau nach Südamerika absetzte, dann allein zurückkam, um neue Projekte zu realisieren, doch bald den Tod wählte. Als dem Bruder danach ein nicht fertig gestelltes Ölgemälde als Andenken übergeben wurde, notierte Heinrich: «Unausgeführt! Alles von Jakob unvollendet, zerfahren, ein Traum!»

Matthias Peter korrigiert das. Aber «es sollte noch ein paar Jahre dauern», bis der 1863 in Zürich abgeschlossene Roman erstmals gedruckt wurde. «Ein Kind des Volkes» lautete 1888 der vom Verleger gewählte, leicht verkitschende Titel. Das später von kompetenter Seite als «Bildungsroman von Rang» und hohem kulturgeschichtlichen Wert gewürdigte Werk berührt noch immer. Etwa wenn Senn das Entstehen eines lokalen Lesevereins schildert, dem er sogleich beitrat. Anstelle sonst steif beachteter Standesunterschiede entwickelte sich dort kameradschaftliche Freundlichkeit, «die jeden, der es suchte, zu Worte kommen liess». Zwar sei bei den Zusammenkünften wenig «politisiert» worden, dennoch kristallisierte sich «das Salz der Erde, worunter auch ich zu einem lichtweissen Körnlein aufschoss». Streit mit dem Vater und die abnehmende Bereitschaft, das Leben vorab mit Ackern und Weben zu verbringen, waren Folgen. Dass er die Chance bekam, als Buchhandelsgehilfe eines etablierten Antiquars ins literarische Milieu einzutreten, erscheint fast paradiesisch. Bei seinem Auszug aus Fischenthal war die Haustür wegen verwehten Schneemassen kaum zu öffnen, der Weg aus dem Tal beschwerlich und «die Stadt, die mir eine neue Heimat sein sollte», hatte «trotz der vielen Rauchsäulen, die von den wirtlichen Dächern aufstiegen, ein überaus frostiges Aussehen». Bald jedoch pries Senn dieses Zürich in Gedichten, er konnte sie publizieren, Erfolge an anderen Orten suchen … 1879, im frühen März, wurde der Zurückgekehrte als Leiche aus der Limmat geborgen, im Tagebuch fanden sich die Verse: «Innere Zerrissenheit / sonder Friede / Machte, ach, mich vor der Zeit / müde, müde.»

Nun wurde das Zürcher Literaturmuseum Strauhof zum Startort einer Wanderausstellung, die derzeit in Glattfelden im Gottfried-Keller-Zentrum gastiert. Morgen Samstag, 16. März ist da von Matthias Peter ein Vortrag zur «Alphabetisierung & Literarisierung» auf dem Land zu hören. Auch dessen Theaterstück über Senn als anderen «Grünen Heinrich» wäre im April zu sehen. Doch ich empfehle natürlich die Aufführung vom 24. März in Fischenthal. Dort sind Ende Mai und Anfang Juni ausserdem zwei dreistündige Wanderungen programmiert, die zu Wohnorten der Senn-Brüder sowie weiteren Stationen führen und «mit einem Umtrunk im Gasthaus Blume» enden. Unterwegs gibt’s Lesungen aus dem Roman.

Graugussmensch aus Bauma

Wer vom Flarzhaus der Familie Senn tössabwärts ginge, müsste nur über eine Wiese und einen kleinen Bach, um zur Finsterau zu gelangen. Dort hat Jakob Wolfensberger vor jetzt 100 Jahren sein «Giessereili» gestartet, «mit Müh und Not», wie er rückblickend bekannte. Einer, der als Lehrling dabei war, erinnerte sich an die damalige Arbeitssituation. «Ryser-Schang» sei mit einem Öllicht herumgerannt, damit in den Ofen hineingekrochen und habe Lehm an die Wände gestrichen, wenn es ans Giessen ging. Dann hätten alle mit vollem Einsatz helfen müssen: Giesser, Handlanger, Lehrlinge, der Gussputzer. Wenn abends der Ofen geleert wurde, kamen «Füürtüfel» aus dem Kamin, die weitherum für Aufsehen sorgten. Doch dann wurde das «Budeli» zu eng, es gab Streitigkeiten mit dem Vermieter, «beim Transport von Gegenständen» nach Bauma, ins erste der grösseren Gebäude, sogar eine Schlägerei.

Ja, die Biographie über diesen für seine Zeit und die Gegend wohl ziemlich typischen Firmengründer, der 1971 als erfolgreicher Unternehmer in Bauma starb, wirkt lebendig. Obwohl es eine «im Auftrag seiner Nachkommen» verfasste Würdigung ist, ihr Untertitel – «Unternehmer, Geschichtsfreund, Wohltäter» – etwas gar nett, wahrt Wolfgang Wahl die nötige Distanz. Als mit der Regionalgeschichte vertrauter Historiker kennt er das Umfeld und wenn er feststellt, «die Strahlkraft» des Porträtierten sei «auch 50 Jahre nach seinem Tod noch spürbar», trifft das sicher zu. Schon wer per Bus ins Dorf kommt, wird durch die Haltestelle ‹Giesserei Wolfensberger› an deren Hauptsitz erinnert. Wobei der von der Familie inzwischen den ‹Fidelium Partners› übergeben und in der Folge mit «roboterbasierten Automatisierungen» modernisiert wurde.

In seiner Frau, die nebst dem Haushalt lang allein die Buchhaltung und anderes erledigte, hatte Wolfensberger eine ideale Partnerin. Mit der Folgegeneration geriet der oft auch als Pa­triarch bezeichnete Patron in Konflikte, sobald es um Änderungen ging. Er habe «eine biografisch bedingte Vorliebe» für frühe Techniken gehabt, schreibt Wahl. Ein mehr als vier Jahrzehnte dort tätiger Laborleiter bestätigt: «Er war ein reiner Graugussmensch.» Mit den neuen Werkstoffen habe er sich nie angefreundet. Als es ohne Umstellungen schlicht nicht mehr ging, habe seine «Hinwendung» zum Erforschen der auf einem Hügel oberhalb des Dorfes gelegenen Burgruine wohl für den nötigen Abstand gesorgt und es ihm leichter gemacht, «die Deutungshoheit» im Betrieb abzugeben. Problemlos war jedoch auch die Altersleidenschaft nicht. Fachleute kritisierten die Ausgrabungen mit Giessereipersonal. Interventionen der Denkmalpflege folgten. Seine in Literaturstudien entwickelten Theorien zum Stellenwert des maroden Bauwerks blieben umstritten. «Die wissenschaftliche Welt blieb reserviert, das Laienpublikum war beeindruckt.» Gnädig bilanziert der Buchautor, dass Wolfensberger – «gesamthaft» zumindest – «auch als Laien-Archäologe und Laien-Historiker» eigentlich Anerkennung verdiene. Aber nach dem Tod seien die Ruine, seine Objektsammlung und Bibliothek «für die Nachkommen unwichtig» geworden. Ebenfalls «entsorgt» wurde das Archiv der alten Firma.

Heimatnah, konservativ-sozial 

Nun gilt es noch den «Wohltäter» zu beleuchten, den laut Nachwort «heimatliebenden Menschen», der «wusste, was Armut, Gesundheit und soziale Herabsetzung bedeuten und in welchen Situationen es sich anbot, zu nehmen beziehungsweise zu geben.» Schon in schwierigen Zeiten vor 1945 sei er häufig spontan grosszügig gewesen. Als er nach dem Zweiten Weltkrieg selbst keine finanziellen Probleme mehr kannte, «konnten Notleidende in Bauma, in Zürich, ja in ganz Europa auf ihn zählen». Meist, aber nicht immer schienen seine Motive selbstlos, einzelne Beispiele wirken fast skurril. Anonymität war ihm wichtig und stets war klar: «Wem wie geholfen wurde, entschied er allein.»

Auch im Betrieb war das so, wie die wenig präzisen Abschnitte über Lohnkonflikte und seinen Umgang mit Gewerkschaften zeigen. Denen hätte er den Zugang zur Firma am liebsten verboten. Nachdem er sich ja selber «aus bescheidenen Arbeiterverhältnissen hochgearbeitet» hatte, manchmal Unterstützung erfuhr, doch von nobleren Leuten zu spüren bekam, dass er nicht zu ihnen gehörte, legte er jetzt Wert auf Respekt, war zwar gönnerhaft, aber kaum solidarisch. Interessant auch, dass Wolfensberger im konservativ religiös geprägten Bauma aus der Kirche austrat, weil eine seiner Ansicht nach unnötige neue Orgel installiert wurde. Doch dem Verfasser der Biographie wurde versichert, dass es ihm nicht um die Kirchensteuer gegangen sei. Jahr für Jahr habe er deren Höhe ausgerechnet und diesen Betrag zusätzlich verschenkt.

Dorf vieler «kleiner Leute»

Historisches, Interessantes, Merk- wie Denkwürdiges, aber auch Lustiges wollte der mit dem Aufbau eines Dorfarchivs befasste Walter Ledermann in «100 Baumer Geschichten» zusammenfügen. Dass er in diesem von vielen Weilern und dem jetzt eingemeindeten Sternenberg umgebenen Tösstal-Dorf zuvor 36 Jahre als Lehrer gewirkt hat, kam seinem Vorhaben zugute: Entstanden ist eine im guten Sinn populäre Publikation. Zwar tauchen darin auch Wolfensberger und der regional wie national bekanntere Guyer-Zeller auf. Aber die sogenannten kleinen Leute sind nicht weniger gewichtig. Rosa Freddi zum Beispiel. Sie arbeitete als Weberin in einer Fabrik, starb 1978 mit 93 Jahren und hat bis zuletzt in einem Flarzteil von Undalen ohne Wasseranschluss oder sonstigem rundum normalem Wohnkomfort gelebt. Schon ihre Mutter wuchs da auf, im Haus der Familie, hatte dann einen italienischen Wanderarbeiter geheiratet. Wohl auch ein Grund, dass Rosa eine «Aussenseiterin» wurde. Als sie einmal zu einer Verhandlung in ein Wirtshaus sollte, ging sie nicht hin: «Wirtschaften sind Tüüfelszüüg.» Doch sie wirkte zufrieden. «Früher hatten vor dem Fenster drei Webstühle gestanden, die tagein, tagaus geklappert hatten. Verglichen damit geht es mir gut.» Vor dem Haus der Garten, im Stall eine Ziege, der Brunnen direkt vor der Tür. «Mehr brauche ich nicht zum Leben.» Heute steht ihre Wohnung mit den Originalgegenständen unter kantonalem Denkmalschutz, kann nach Voranmeldung besichtigt werden und zuweilen gibt es öffentliche Führungen.

Auch ein Revolutionär kommt vor, der 1918 beim Generalstreik an vorderster Front agierte, 1920 in die Sowjetunion auswanderte, unter Stalin in Haft kam. Angehörige bekamen 1942 eine Todesnachricht ohne mehr Informationen. Der fast gleichaltrige «Chrömer Bär» wechselte von der Fabrik zum freieren Leben als Hausierer und war besonders in den entlegenen Ecken des Tössberglandes hochwillkommen. An den Markttagen wirkte die ganze Familie am Stand des Händlers mit. Als die Motorisierung zunahm und sogar in Bauma ein Warenhaus eröffnet wurde, nahm das Interesse ab. Immerhin hat Olga Meyer den sympathischen Kleinstunternehmer in ihrem «Sabinli» gewürdigt. Sie wird auch im Zusammenhang mit den «Anneli»-Büchern erwähnt. Und natürlich Jakob Stutz, der als einer der ersten – gemäss Ledermann gar als «erster Schriftsteller im deutschsprachigen Raum die Art und das Leben der einfachen Menschen» literarisch festhielt. Er lebte «bald hier, bald dort», und von 1841 bis 1856 in Sternenberg. Mit dem von ihm gegründeten Dichterzirkel ermutigte er auch die Senn-Brüder aus Fischenthal zum Schreiben.

Senn im Textil-Dampf-Umfeld

Womit ich auf den 200. Geburtstag von Jakob Senn zurückkomme: Letzte und zeitlich längste Station der Wanderausstellung wird das zwischen Bauma und Bäretswil gelegene Museum Neuthal sein, wo zugleich «200 Jahre Textil- & Industriekultur» gespiegelt werden. Da kann vom 12. Mai bis zum 27. Oktober jeden Sonntag beides besichtigt werden, und im Begleitprogramm findet sich am 9. Juni eine Führung, welche den «Niedergang der Heimweberei» im Tösstal im Blick hat. Alle vierzehn Tage wäre der Besuch mit einer Dampfbahnfahrt zu kombinieren. Eine unbeschwerte Zugabe reiner Nostalgie …

 

Jakob Senn: Hans Grünauer. Roman. Mit einem Nachwort von Matthias Peter. Limmat Verlag, Zürich 2024, 355 Seiten, 38 Franken. Infos zu den Geburtstags-Veranstaltungen via www.jakob-senn-200.ch

Wolfgang Wahl: Jakob Wolfensberger (1893-1971). Unternehmer, Geschichtsfreund, Wohltäter. Chronos Verlag, Zürich 2023, 232 Seiten im Grossformat, 38 Franken

Walter Ledermann: 100 Baumer Geschichten. Druckerei Zimmermann, Wetzikon 2023, 217 Seiten mit vielen Illustrationen, 28 Franken. Unter anderem – nebst allerlei traditionell gefertigten Textilien – beim Heimatwerk Bauma im Laden zu haben.

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.