Unwissen als Feind der Demokratie

Der Rechtsanwalt Pierre Heusser schreibt Klartext zur Durchsetzungsinitiative, die nicht zuletzt ein Angriff auf die Gewaltenteilung sei.

 

Pierre Heusser

 

«Was weiss ein Fisch vom Wasser, in dem er sein Leben lang herumschwimmt?» Das berühmte Zitat von Albert Einstein klingt heute nach, wenn man den Befürwortern der Durchsetzungsinitiative zuhört. Was weiss der heutige Wut- und Stimmbürger eigentlich noch von der Demokratie und vom Rechtsstaat, in dem er lebt? Offensichtlich nicht mehr viel. Wie kann es sonst sein, dass so viele Schweizerinnen und Schweizer dazu bereit sind, elementare rechtsstaatliche Prinzipien und Menschenrechte abzuschaffen, um «Sicherheit zu schaffen»? Dieses Unwissen ist gefährlich. Denn die Durchsetzungsinitiative, über die wir am 28. Februar abstimmen, ist nicht einfach eine weitere ‹normale› SVP-Initiative, sondern dieses Mal soll unsere Demokratie umgebaut werden. Die Initiative ist ein Angriff auf die Gewaltenteilung, welche ein Grundpfeiler unserer Demokratie ist.

Dazu ein bisschen Staatskunde: Die Gewaltenteilung garantiert, dass keine der drei Staatsgewalten (Stimmvolk, Regierung, Gerichte) die absolute Macht im Staate hat, sondern dass sich diese drei Gewalten gegenseitig kontrollieren und korrigieren können. Das ist extrem wichtig, denn ohne Gewaltenteilung – oder wie die Amerikaner sagen: checks and balances – droht ein Absolutismus, also die totale Macht. Und wenn eine dieser drei Staatsgewalten die totale Macht hat, dann wird es gefährlich. Eine Regierung mit absoluter Macht (also wo Volk und Gerichte nichts mehr zu melden haben) ist eine Diktatur, das hatten wir schon mit Louis XIV in Frankreich und in modernen Diktaturen (Saddam, Assad, Ghaddafi). Keine gute Sache. Gerichte mit absoluter Macht führen zu einem Richterstaat wie im Iran, wo ein paar Ayatollahs im Wächterrat bestimmen, wer was darf, ohne dass das Volk oder die Regierung etwas zu melden haben. Auch keine gute Sache. Und was ist, wenn die dritte Staatsgewalt, das Stimmvolk, die totale Macht hat und wenn Gerichte, Parlament und Regierung ausgeschaltet werden? Genau das wollen ja die Initianten: SVP-Nationalrat Heinz Brand hat es im ‹Tagi›-Interview offen gesagt: «Der Absolutismus ist ein Weg, es ist unser Vorschlag. Im Vergleich zu heute ist es eine grundlegende Praxisumkehr, und das ist das Ziel».

 

‹Stimmvolk› ist nicht gleich ‹Volk›

Ein solcher Volksabsolutismus ohne irgendwelche Schranken ist eben auch ‹Brand›-gefährlich. Denn das Stimmvolk ist nicht das gesamte Volk: Von den ca. 8,3 Mio. Einwohnern der Schweiz sind ca. 5,3 Mio. stimmberechtigt. Und von denen gehen meistens nur ca. 3 Mio. wirklich abstimmen. Bei einem knappen Abstimmungsergebnis sind es also schlussendlich nur ca. 1,5 Mio. Menschen, welche z.B. eine Initiative annehmen. Und nun stellt sich die Frage: Sind diese 1,5. Mio Stimmbürger wirklich ‹das Volk›? Dürfen diese 1,5 Mio. völlig beliebig über die anderen fast 7 Mio. bestimmen, ohne jede Einschränkung?

Die Antwort ist ganz klar: Nein! Denn ich bin nicht primär Stimmbürger und Teil des Souveräns, sondern primär bin ich ein individueller Mensch. Und als Mensch habe ich individuelle Menschenrechte, die mir niemand wegnehmen darf, auch nicht das Stimmvolk, auch nicht mit einer Initiative. Es gibt beispielsweise das Menschenrecht auf Leben, das Menschenrecht auf Zusammenleben mit meiner Familie und – darum geht es bei der Durchsetzungsinitiative – es gibt für alle Menschen das Menschenrecht auf ein faires Gerichtsverfahren, in welchem meine persönliche Situation genau angeschaut wird, bevor ich für einen Fehltritt bestraft werde.

 

Entrechtungsinitiative

Und genau dieses Menschenrecht auf ein faires Verfahren soll mit der Durchsetzungsinitiative für eine bestimmte Personengruppe abgeschafft werden, nämlich für die straffällig gewordenen Ausländer. Diese sollen automatisch ausgeschafft werden, ohne dass ein Gericht den Einzelfall genauer anschauen darf, also ohne Rücksicht darauf, wie schwer das Delikt wirklich war, wie lange der Ausländer schon in der Schweiz lebt, oder es sich um einen Jugendlichen oder Familienvater handelt. Deshalb ist diese Initiative nichts anderes als eine Entrechtungsinitiative.

Zugegeben, kriminelle Ausländer sind vielleicht nicht die sympathischste Personengruppe unserer Bevölkerung, aber es sind doch auch Menschen, oder etwa nicht? Und als solche müssen wir ihnen doch auch ihre Menschenrechte belassen, oder etwa nicht? Auch straffällige Ausländer müssen das Menschenrecht auf ein faires Verfahren haben, in welchem ihre persönliche Situation angeschaut wird, bevor sie ausgeschafft werden.

Und es ist ja nicht so, dass Ausländer bei Ablehnung der Initiative nicht bestraft und nicht ausgeschafft werden. Sie werden schon heute genauso bestraft wie die Schweizer, wenn sie ein Delikt begehen. Und bei schweren Delikten werden sie auch heute schon ausgeschafft. Aber heute geschieht dies noch in einem fairen Verfahren, das den Einzelfall genau anschaut. Und selbst bei Ablehnung der Initiative wird eine Verschärfung in Kraft treten, welche die im Jahre 2010 angenommene Ausschaffungsinitiative umsetzt, einfach mit der Härtefallklausel in einer Art und Weise, welche die Menschenrechte gerade noch respektiert.

Wer der Durchsetzungsinitiative zustimmt, der ist damit einverstanden, dass zum ersten Mal in der Schweiz einer Personengruppe ein Teil ihrer Menschenrechte ganz grundsätzlich entzogen wird. Und wer nicht mehr die gleichen Menschenrechte hat wie die anderen Menschen, der ist kein gleichwertiger Mensch mehr. Deshalb schafft die Initiative zum ersten Mal in der Geschichte der schweizerischen Demokratie eine Kategorie von ‹Untermenschen›, die keinen Zugang mehr auf ein faires Verfahren haben.

Das können wir einfach nicht wollen. Wir wissen alle, was passieren kann, wenn man beginnt, bestimmten Personengruppen ihre Rechte wegzunehmen, und wenn das Stimmvolk ohne Rücksicht auf die Menschenrechte irgendwelche Gesetze erlassen kann. Die Apartheid in Südafrika und die Judengesetze in Nazideutschland wurden mit einer Mehrheit von Volk und Parlamenten beschlossen. Die Geschichte zeigt, dass auch der Souverän Unrecht begehen kann. Nach der Logik der Initianten wäre es beispielsweise zulässig, den Romands mit einer Verfassungsinitiative das Stimmrecht zu entziehen oder den Gebrauch des Rätoromanisch zu verbieten oder aber die öffentliche Darbietung des SVP-Freiheitsliedes (sie wissen schon: «wo ein Willy ist…»). Es braucht nur eine Volksmehrheit dazu. Eine derart schrankenlose Stimmvolksdiktatur können wir doch nicht wollen. Nein, auch der Souverän muss seine Grenzen haben, und diese sind die Menschenrechte von uns allen, auch diejenigen der straffällig gewordenen Ausländer.

 

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