Unbarmherzig

Im Speisewagen im Intercity von Zürich nach Bern kam ich mit einem Mann ins Gespräch. Wir sassen am gleichen Tisch, es war später Nachmittag und es war vor vielen Jahren. Der Mann war unterwegs an eine Preisverleihung, wie sich herausstellte, hatte er bei einem Schreibwettbewerb gewonnen. Das Buch schickte er mir später einmal zu, es hiess «Der unbarmherzige Samariter» und handelte von einem Ehemann, der aus purer Hilfsbereitschaft eine weitere Frau in sein Haus aufnahm, mit der er dann ebenfalls eine Beziehung anfing. Und beide Frauen brachten es fertig, das Verhältnis des Mannes mit der jeweils anderen nicht zu bemerken. Des Weiteren habe ich keine Ahnung mehr, wie die Geschichte ausging. 

 

Was mir vor allem in Erinnerung blieb, ist, dass mir der Mann im Zug auch von seinem Beruf erzählte. Er war Seismologe, ausgerüstet mit einem Alarm. Sollte es irgendwo rütteln, musste er augenblicklich los. Seither, und hier kommen wir zum Punkt, muss ich an ihn und unsere Begegnung denken, wann immer es auf der Erde bebt. Ich frage mich dann jeweils als Erstes, ob der Alarm bei diesem Mann, dessen Namen ich nicht mehr weiss, wohl losgegangen ist und er schon längst in einer Zentrale sitzt und das Beben beobachtet und ob er noch weitere Bücher geschrieben hat, wobei ich Letzteres nicht unbedingt hoffe. 

 

Jetzt hat es wieder gebebt. Es ist eines der schwersten Erdbeben der jüngeren Geschichte, das vor wenigen Tagen den Südosten der Türkei und den Nordwesten Syriens erschüttert hat. Tausende Gebäude wurden zerstört, darunter auch Spitäler. Während ich diese Zeilen schreibe, ist die Zahl der Toten auf 12 000 gestiegen, die der Verletzten auf über 23 000. Strassen und Wege wurden verschüttet, so dass gewisse Orte nicht zugänglich sind. Was insbesondere für Syrien gilt, wo das Erdbeben die Schwächsten getroffen hat. Es ist, als ob die Natur hier ihre unbarmherzigste Seite zeigt, indem sie Unglück zu Unglück trägt und noch Kälte, Regen und Schnee dazu gibt. 

 

Nun ist es aber – wie man lesen kann – nicht unbedingt so, dass das Erdbeben eine Überraschung war. Wenn man auch den genauen Zeitpunkt nicht voraussagen konnte, so war doch klar, dass es kommt. Das haben Seismologen immer wieder an die Behörden herangetragen. Offenbar hat man aus dem schrecklichen Erdbeben von 1999 doch nur kurzfristig etwas gelernt, die damals eingeführte sogenannte Erdbebensteuer sei zu mehr als der Hälfte anderswo versickert, wie die Opposition in der Türkei behauptet. So wurde also nicht in erdbebensichere Häuser investiert, die Infrastruktur nicht verstärkt, die Leute nicht geschützt. Und auch die Menschen in den durch Erdbeben gefährdeten Gebieten haben sich arrangiert. Teils, weil sie sich eine solche Renovation gar nicht leisten könnten, aber auch weil sie ein paar Wochen oder Monate nach einem Unglück mit der ständig lauernden Gefahr leben lernen, indem sie sie einfach verdrängen.  

 

Das wiederum erinnert mich an die Klimakatastrophe. Viel zu fest. Auch sie nehmen wir nur wahr, wenn uns ein Tsunami oder sonst eine aussergewöhnliche Überschwemmung um die Ohren fliegt. Zwischen solchen Ereignissen können wir ganz gut verdrängen, die Augen vor dem Offensichtlichen verschliessen und wegschauen und so tun, als würde da nicht noch eine zweite Frau im Haushalt leben. 

 

Bis sie wieder zuschlägt, die unbarmherzige Natur. 

 

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