Umkehr

Sarah Gärtner inszeniert Lot Vekemans «Judas» nicht als Farce, sondern als existenzielles Ringen um Tatsachen.

Tom Schneider verwandelte diesen Monolog der niederländischen Dramatikerin vor acht Jahren in der Chorgasse des Theaters Neumarkt in eine blasphemische Showbeichte, was vor allem sehr lustig war. Sarah Gärtner zielt jetzt in ihrer Inszenierung im Kellertheater Winterthur sehr viel stärker auf das besondere Vermögen von Lot Vekemans, aus einer landläufig inhaltlichen Einmütigkeit mittels eines eleganten Manövers zu einer intellektuellen Verführung zu gelangen, an deren Ende das grosse Fragezeichen stehenbleibt und eine klare Selbstverortung alias Haltung einfordert. Ob es kluge dramaturgische Schlenker sind oder bare dramatische Raffinesse, die die ihren Stücken stets innewohnende Ambivalenz erst mit einer mittelbaren Dringlichkeit versetzen, ist dabei nicht der entscheidende Punkt. Immer findet man sich ertappt wieder, zu kurz gedacht zu haben. Der Schauspieler Christian Heller war in den Nullerjahren langjähriges Ensemblemitglied am Schauspielhaus Zürich und eine erneute Bühnenbegegnung verströmt darum bereits eine gewisse wohlige Vertrautheit, in der beinahe intimen Nähe des Kellertheaters Winterthur nochmals verstärkt. Noch vor dem wirklich wirklichen Beginn des Stücks huscht er Schritte zählend über die Bühne und bringt Positionskleber an, richtet die Leuchte, setzt die Nadel wieder und wieder an den Anfang der Standardjazz-Single, was die bereits gefühlte Vertrautheit um das Element einer transparenten Offenheit erweitert. Seinen Figurennamen braucht er nicht zu erwähnen, denn der sagt an sich gar nichts darüber aus, wie sich die berüchtigten Geschehnisse tatsächlich abgespielt hatten. «Ehrlichkeit ist ein heikler Begriff», setzt Christian Heller an, um in der Folge jede vermeintliche Gewissheit – die Rede ist vom Glauben, nicht vom Wissen – in ihrem Fundament zu erschüttern. Und dies in einer ausgesprochen glaubhaft erscheinenden Weise. Eine Peinlichkeit kann er unmöglich auslassen, selbst wenn es sich nicht gehörte, aber dem Umstand muss er auf den Grund gehen. Also ermöglicht er jeder einzelnen Person im Publikum, das eigene schlechte Gewissen zu erleichtern, indem sie reumütig blinzelnd also sehr diskret eingestehen kann, die Person zu sein, die noch nicht bezahlt hat. Ein kolossaler Theatermoment der Schuldbewusstseinsumkehr. Noch länger wirken nur noch die rein verbal geäusserten, hochgradig philosophischen Infragestellungen: Ob ‹seine› Barmherzigkeit eine Endlichkeit gekannt haben könnte oder ob es jemandem lieber wäre, ‹seine› Geschichte wäre anders verlaufen.

«Judas», 25.2., Kellertheater, Winterthur.

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