Systemrelevant

Nein, Krisen sind nicht immer auch Chancen. Manchmal sind sie einfach nur Krisen. Aber Krisen können uns einiges aufzeigen über das Funktionieren unseres Systems.

Ab Montagnachmittag hat der Bundesrat in einer Pressekonferenz den sogenannten Lockdown verkündet. Bars, Restaurants, Skigebiete, Freizeiteinrichtungen und Kulturbetriebe sind geschlossen. Veranstaltungen sind keine mehr erlaubt. Die Schliessung der Schulen wurde bereits am Freitag beschlossen. Es sind weitgehende Massnahmen, die etliche vor enorme Schwierigkeiten stellen werden. 

 

Ich habe – wie wohl viele Politikerinnen und Politiker auch – schon letzte Woche einige Zuschriften zum Thema Corona-Virus erhalten. Die Schweiz solle mehr testen. Die Schweiz soll die Schulen schliessen. Der Nationalrat, die Politik solle jetzt eingreifen. Nun halte ich mich selbstverständlich wie fast alle PolitikerInnen für quasi omnikompetent. Und ich habe auch zu allem eine Meinung. Hier fand ich aber – wie praktisch alle anderen Kolleginnen und Kollegen aus allen Parteien – dass es kaum sinnvoll ist, als einzelne Nationalrätin jetzt auch noch meinen Senf zur Bewältigung der Corona-Krise abzugeben. Das Bundesamt für Gesundheit, der Bundesrat und die Kantonsregierungen stehen hier in der Pflicht. Ob sie richtig handeln oder nicht, werden wir zur gegebenen Zeit beurteilen können. Jetzt ist aber vor allem sinnvoll, sich gemäss diesen Anweisungen zu verhalten und sein Möglichstes dafür zu tun, dass die Ausbreitung des Virus gestoppt wird. Das heisst: Abstand halten, die Hände waschen und überhaupt: Stay the fuck home, wie es neu so schön heisst.

 

Die Session und die Sitzungen von Kantons- und Gemeinderat wurden abgesagt. Die Räte werden aber in den kommenden Wochen und Monaten sicher gebraucht:  Es wird substanzielle finanzielle Mittel brauchen, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise abzufedern. Besonders betroffen sind im Moment auch Selbstständigerwerbende, die keine Aufträge mehr haben und nicht stempeln können. Ebenso schwierig ist es jetzt für all die Branchen, die vom Lockdown betroffen sind. Mit Gastgewerbe, Tourismus und Teilen des Detailhandels sind gerade Tieflohnbranchen tangiert.

Mit der Corona-Krise verschieben sich aber auch die Perspektiven. 160 Millionen Stunden jährlich werden von Grosseltern für die Betreuung von Kindern geleistet, schrieb der Journalist Reto Lipp auf Twitter. Viele von ihnen werden jetzt ausfallen, da sie altersbedingt zu einer Risikogruppe gehören. Die Schulen wurden landesweit geschlossen. Die Kindertagesstätten sind noch offen, aber auch hier gilt: Wer kann, soll die Kinder aus der Kita nehmen und selber betreuen. Dies stellt Eltern vor eine grosse Herausforderung. Auch Home-Office ist hier nur eine bedingte Hilfe. Denn Kinder betreuen und gleichzeitig konzentriert arbeiten ist nun mal nicht möglich.

 

Nur wer in «systemrelevanten» Berufen arbeitet, soll seine Kinder betreuen lassen, heisst es. Und was ist systemrelevant? In der Finanzkrise meinte man mit systemrelevant noch die Banken, die zu gross zum Scheitern sind. Heute ist was anderes gemeint: Systemrelevant sind jene Berufe, die zur Bewältigung der Corona-Krise und zur Aufrechterhaltung des Systems nötig sind: Die Blaulichtorganisationen, die Gesundheitsberufe, die KinderbetreuerInnen, der öffentliche Verkehr, die Lebensmittelgeschäfte oder die Apotheken. Darunter sind viele Berufe, die heute wenig Prestige und keine gute Bezahlung kennen. Typische Frauenberufe. An der Supermarktkasse, im Pflegeheim, in der Kita. 

«Die Kinderbetreuung ist ein grosses Problem. Wir sind zwar so toll systemrelevant, aber viele sind mit unseren Gehältern auch die Kleinverdienerinnen in der Familie. Und die Männer sagen: Ich bleibe nicht zu Hause, wir brauchen mein Einkommen», meint die Pflegefachfrau Ilka Steck in einem Interview mit der ‹Zeit› zu den Herausforderungen, die es momentan in den Alters- und Pflegeheimen gibt. Tatsächlich werden wohl die Hierarchien in vielen Familien ganz neu sortiert. Der Vater bleibt zuhause und betreut die Kinder, währenddem die Mütter in den Spitälern, Kitas und in der Migros arbeiten. Wenn das Corona-Virus dazu beitragen könnte, dass diese Arbeit wertvoller würde, dann wäre dies durchaus ein positiver Aspekt. In vielen Ländern gibt es Aktionen, um dem Gesundheitspersonal zu applaudieren, auch in der Schweiz machen die ersten Aufrufe die Runde. Wertschätzung, Dankbarkeit, Respekt sind wichtig. Aber sie genügen nicht. Es braucht auch mehr Geld, mehr Ressourcen und bessere Löhne. Heute und in Zukunft.

 

Die Krise zeigt unsere guten und schlechten Seiten. Hamsterkäufe stehen den vielen Solidaritätsaktionen und Nachbarschaftshilfen, die in den letzten Tagen entstanden sind, gegenüber. Welche Seite geht wohl gestärkt aus der Krise hervor: Die egoistische oder die solidarische? Wohl seit Anbeginn der Menschheit diskutiert diese über ihr Wesen. Ist der Mensch im Grund gut oder schlecht? Viele glauben, dass die Zivilisation nur eine dünne Schicht ist, die in einer Krise schnell wegbreche. Der Historiker Rutger Bregman ist da optimistischer, wie er in einem Interview mit der ‹NZZ am Sonntag› darlegt: «Aber tief in der menschlichen Natur ist das Gute stärker als das Böse. Das heisst nicht, dass wir von Natur aus gut sind, wir tun manchmal schreckliche Dinge. Doch unser Hang zu Freundlichkeit und Zusammenarbeit ist sehr stark.» Für sein neues Buch «Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit» hat Bregman Kriege, Naturkatastrophen und andere Krisen betrachtet und kommt zum Schluss, dass in diesen Situationen nicht Chaos und Plünderungen ausbrechen, sondern Hilfe und Zusammenarbeit massiv steigen. Das werde auch in der Corona-Krise geschehen: «Natürlich werden Sie Geschichten hören, dass Leute Toilettenpapier stehlen. Aber die überwältigende Mehrheit verhält sich sozial. Tausende von Krankenpflegern und Ärztinnen arbeiten so hart, wie sie nur können. Millionen Menschen ändern ihr Verhalten, um die Ausbreitung des Virus zu bremsen.»

 

So oder so. Die Schweiz wird diese Krise durchstehen. Und bei allen Folgen, wird sie sie wohl besser durchstehen als viele andere, weil sie die entsprechenden Mittel hat. Daran sollten wir auch denken: Die lokale Solidarität ist wichtig, die globale Solidarität genauso. Denn Corona zeigt auch: Probleme machen selten an nationalen Grenzen halt, auch wenn jetzt die Grenzen geschlossen werden. 

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.